Historiker Jens-Christian Wagner über Lehren aus dem Wahlausgang in Thüringen
Drei Tage nach der Landtagswahl in Thüringen hat sich an meinem Entsetzen von Sonntagabend nicht viel geändert: Für jemanden, der sich beruflich der kritischen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen widmet, ist es erschütternd und deprimierend, wenn erstmals seit 1945 Rechtsextreme in einem Bundesland mit knapp einem Drittel der Stimmen stärkste Partei werden. Und in Sachsen sieht es kaum besser aus: Auch dort hat die AfD gut 30 Prozent der Wählerstimmen geholt.
Für die Gedenkstätten ist der Wahlerfolg der AfD bitter. Notorisch verharmlosen Politiker der AfD die NS-Verbrechen und diskreditieren die Erinnerungskultur als „Schuldkult“ – ein Begriff, den der ehemalige SS-Unterscharführer und spätere rechtsextreme „Republikaner“-Chef Franz Schönhuber Anfang der 1980er Jahre in die Welt gesetzt hat und der später von der AfD aufgegriffen wurde. Dahinter steht die geschichtsrevisionistische Legende, die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und die Würdigung ihrer Opfer dienten „fremden Mächten“, vorzugsweise den Juden, dazu, Deutschland kleinzuhalten bzw. seine „Selbstfindung“ zu verhindern, wie der Thüringer AfD-Chef Höcke kürzlich auf X, vormals Twitter, schrieb. Höcke ist es auch, der ständig von „raumfremden Mächten“ raunt, die aus Deutschland vertrieben werden müssten. Raumfremde Mächte – das ist ein Begriff, den der NS-Staatsrechtler Carl Schmitt 1941 eingeführt hat, mitten im Zweiten Weltkrieg.
Dass die AfD ausgerechnet in Thüringen erstmals stärkste Kraft wird, ist bitter und weckt historische Assoziationen, blicken wir historisch doch auf drei Thüringer Sündenfälle auf dem Weg zum NS-Staat: 1924 die erste Tolerierung einer bürgerlichen Minderheitsregierung durch Nationalsozialisten im Deutschen Reich, 1930 die erste Koalitionsregierung mit Nationalsozialisten und 1932 die erste NSDAP-geführte Landesregierung. Thüringen, von den Nazis als „Schutz- und Trutzgau“ bezeichnet, war für die NSDAP ein Experimentierfeld und Sprungbrett auf dem Weg zur Macht in ganz Deutschland.
Nun ist die AfD trotz aller ideologischen Ähnlichkeiten keine NSDAP 2.0, zumindest noch nicht. 1924 ist nicht gleich 1933. Die Unterschiede liegen aber weniger in der Programmatik der beiden Parteien als im historischen Kontext. Die Weimarer Republik stand nicht nur unter Beschuss durch die NSDAP, sondern auch von links, nämlich durch die stalinistische KPD. Diese Gefahr gibt es heute nicht. Unterschied Nr. 2: Weimar war eine Republik ohne Republikaner. Heute stehen die meisten Menschen in Deutschland und auch in Thüringen fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Vergessen wir nicht: 70 Prozent der Thüringer haben die AfD nicht gewählt. Der dritte Unterschied: Anfang der 1930er Jahre herrschte in Deutschland infolge der Weltwirtschaftskrise blanke Not. Heute geht es den meisten Deutschen so gut wie noch nie.
Der vierte Unterschied hat mit historischen Kenntnissen zu tun: Anders als die Zeitgenossen des Jahres 1933 wissen wir, wie das damals ausgegangen ist. Und das verpflichtet uns, wachsam zu sein, und die demokratischen Parteien im Thüringer Landtages mahnt dieses Wissen, jegliche Zusammenarbeit mit den Rechtsextremen zu unterlassen.
KStA 4. September 2024
Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolume veröffentlicht.