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Wie kann es sein, dass sich Neonazis auf Kommunisten berufen?

Jens-Christian Wagner im Kölner Stadtanzeiger vom 26.10.2024

In Social Media verbreitet sich derzeit ein Video viral, das in dieser Woche beim wöchentlichen „Montagsspaziergang“ in Gera aufgenommen wurde. Zu sehen ist ein junger offenkundiger Neonazi, der die Menge zum gewaltsamen Durchbrechen von Polizeiketten aufruft und sich dabei auf Ernst Thälmann beruft, den im KZ Buchenwald ermordeten Vorsitzenden der KPD.

Wie kann es sein, dass sich ein Neonazi auf einen Kommunisten beruft? Wie kann es sein, dass ausgerechnet im Osten, in der die DDR den antifaschistischen Widerstandskampf propagierte, eine rechtsextreme Partei wie die AfD, die die NS-Verbrechen notorisch verharmlost und die Arbeit der Gedenkstätten als „Schuldkult“ diskreditiert, einen derartigen Wählerzuspruch erhält?

Um diese Frage zu beantworten, muss man sich in die unappetitlichen Niederungen der AfD-Geschichtspolitik in Thüringen begeben: „Gedanken zum Jahrestag der Luftangriffe“, so überschrieb der AfD-Landtagsabgeordnete Jörg Prophet einen Text, den er am 2. April 2020 auf der Website der AfD Nordhausen veröffentlichte. Darin warf er den amerikanischen Soldaten, die das KZ Mittelbau-Dora am 11. April 1945 befreit und mehrere Hundert KZ-Häftlinge gerettet hatten, „Morallosigkeit“ vor. Das erinnert an die SED-Geschichtspolitik. 1964, Prophet war da gerade zwei Jahre alt, präsentierte die Stadt Nordhausen in einer Broschüre über das KZ Mittelbau-Dora ein Foto von Häftlingsleichen in der Nordhäuser Boelcke-Kaserne. In der Bildunterschrift hieß es: „Was die SS nicht mehr vollbrachte, vernichteten die USA-Luftpiraten.“

Den Begriff „Luftpiraten“ hatte schon die nationalsozialistische Propaganda mit Bezug auf die westalliierten Luftangriffe verwendet. Im Fall des Fotos aus der Boelcke-Kaserne bezog sich die Bildunterschrift von 1964 auf einen britischen (nicht: amerikanischen) Luftangriff auf Nordhausen Anfang April 1945, bei dem auch ein KZ-Außenlager in der Boelcke-Kaserne getroffen worden war. Tatsächlich waren die meisten Häftlinge aber nicht beim Luftangriff getötet worden, sondern an den Folgen von Hunger, Zwangsarbeit und Krankheiten gestorben. Sie waren Opfer der SS, nicht der Amerikaner oder der Briten.

Von der antiamerikanischen Bildunterschrift der DDR-Broschüre von 1964 zu Prophets Behauptung von 2020, die US-Befreier des KZ Mittelbau-Dora seien „morallos“ gewesen, zieht sich ein roter Faden. Sein Geschichtsrevisionismus ist ein diffuses Amalgam aus klassisch westdeutschen, rechtsextremen Geschichtsbildern und Nachwirkungen der SED-Geschichtspolitik. Diese präsentierte ein entlastendes Geschichtsbild, wonach die NS-Verbrechen von einer Clique von Monopolkapitalisten und NS-Funktionären begangen worden seien, die nach 1945 alle in den Westen gegangen waren. „Die Blutspur führt nach Bonn“, hieß die Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald in den 1960er Jahren. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung für die NS-Verbrechen blieb damit in der DDR weitgehend aus.

Deutlich fand das SED-Geschichtsbild auch in der Popularisierung des „Schwurs von Buchenwald“ seinen Ausdruck, den die KZ-Überlebenden am 19. April 1945, nur wenige Tage nach ihrer Befreiung, bei einer Kundgebung auf dem Appellplatz abgegeben hatten: „Die endgültige Zerschmetterung des Nazismus ist unsere Losung“, hatten die Befreiten bekundet. Kommunistische ehemalige Häftlinge änderten die Losung wenige Tage später. Sie hieß nun: „Die endgültige Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung.“ Die Wurzeln, das waren nach SED-Lesart der Kapitalismus und sein politisches System. Damit hatte die DDR-Geschichtspolitik eine stark antiwestliche, antiliberale und antiamerikanische sowie zeitweise auch eine antizionistische (und damit auch tendenziell antisemitische) Aufladung. Damit ist dieses Narrativ auch für heutige Rechtsextreme, die den demokratischen Rechtsstaat westlicher Prägung überwinden wollen, anschlussfähig. Das erklärt, warum der westdeutsche Rechtsextremist Jürgen Elsässer mit seiner „Ami – go home“-Kampagne im Osten recht erfolgreich ist. Es ist also kein Zufall, dass die Weimarer „Montagsspaziergänger“, die eine diffuse rechtsextreme Mischung aus Pandemieleugnern, „Reichsbürgern“, AfD-Funktionären, Putin-Anhängern und „Freien Thüringern“ bilden und sich selbst als „Weimarer Revolution“ bezeichnen, als Logo die zum Schwur erhobene Hand einer Bronzefigur in der berühmten Plastik von Fritz Cremer verwenden, die vor dem 1958 eingeweihten Glockenturm des monumentalen Buchenwald-Mahnmals steht. Die Rechtsextremen postulieren damit, das Vermächtnis des antifaschistischen Widerstandskampfes zu verwirklichen.

„Montagsspaziergang“ in Weimar 15. Januar 2024 (©Foto: Jens-Christian Wagner)

Das ist natürlich vollkommen widersinnig. In ihrer eigenen verqueren Logik bekommt es aber Sinn, brandmarken diese Leute doch – wie die DDR-Propaganda – den liberalen Rechtsstaat westlicher Prägung als faschistisch – so wie es auch AfD-Funktionäre und andere Rechtsextreme machen, wenn sie behaupten, im „Widerstand“ gegen das als faschistisch bezeichnete Berliner „Ampel-Regime“ zu stehen. Der Begriff des „Faschismus“ wird damit jeglichen Inhalts beraubt und zum bloßen Kampfbegriff – und zugleich werden der tatsächliche Antifaschismus (also der Einsatz gegen rechtsextremes Gedankengut) und die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus diskreditiert – von der Instrumentalisierung der NS-Opfer einmal ganz abgesehen.

Die DDR wird von der AfD und anderen Rechtsextremen überwiegend abgelehnt, auch wenn sie emotionale nostalgische DDR-Bezüge durchaus nutzen, wie etwa Björn Höcke, der im Thüringer Landtagswahlkampf auf einer Simson, dem DDR-„Kult“-Moped, durchs Land knatterte. Die Geschichtsbilder der SED sind für diese Leute, da sie antiliberal aufgeladen sind, aber anschlussfähig und bilden zusammen mit klassischen westdeutschen geschichtsrevisionistischen Mythen ein aggressiv-ideologisches Gemisch, das den liberalen Rechtsstaat und die Erinnerungskultur zu delegitimieren versucht. Da beruft man sich als Rechtsextremer dann auch gerne mal auf den Kommunisten „Teddy“ Thälmann, um den die SED einen antifaschistischen Märtyrer-Kult inszenierte und nachdem unzählige Schulen wie auch die DDR-Massenorganisatin für Kinder benannt waren.

Für den Erfolg der Rechtsextremen in Ostdeutschland sind die Nachwirkungen der SED-Geschichtspolitik wie auch der autoritären Sozialisation in der DDR selbstverständlich bei weitem nicht allein verantwortlich (eine große Rolle spielt etwa bei vielen Menschen auch das Gefühl der Demütigung durch Westdeutsche während der Transformation nach 1989/90). Zudem ist der Aufstieg der AfD kein reines Ostphänomen, sondern ein bundesweites Problem. Trotzdem lässt es sich nicht leugnen, dass die AfD im Osten größeren Zuspruch hat als im Westen. Und um dafür Erklärungen zu finden, ist die inhaltliche Auseinandersetzung mit der SED-Geschichtspolitik unerlässlich – nicht nur in den Gedenkstätten, sondern auch in den Schulen wie überhaupt in der gesamten Gesellschaft.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

 

Was Köln und Buchenwald verbindet

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom 21. Oktober 2024

Während das Erstarken der extremen Rechten und die massive Zunahme des Antisemitismus die NS-Gedenkstätten weiter beschäftigen, rücken die Vorbereitung des Gedenkens zum 80. Jahrestag der Befreiung von der NS-Herrschaft und die Erinnerung an die Verbrechen der Kriegsendphase in den Fokus.

Die Region des heutigen Regierungsbezirks Köln, welche die Gestapo aus dem EL-DE-Haus kontrollierte, befand sich schon ab Herbst 1944 in einer Ausnahmesituation, da allenthalben mit dem baldigen Kriegsende gerechnet wurde. Bereits am 21. Oktober 1944, vor genau 80 Jahren, wurde Aachen als erste deutsche Großstadt von der US-Armee erobert. Es vergingen jedoch noch fünf Monate, ehe Anfang März 1945 das linksrheinische Köln befreit werden konnte. Im Rechtsrheinischen dauerte die NS-Herrschaft sogar bis Mitte April 1945 an.

In diesen letzten Kriegsmonaten, als Köln unter anhaltenden Bombenangriffen in Trümmern versank, kam es zu einer massiven Gewalteskalation. Während die meisten Kölner*innen die Stadt verlassen hatten, gingen Sonderkommandos der Gestapo mit größter Brutalität gegen sogenannte Banden vor, die sich aus ausländischen Zwangsarbeiter*innen, Deserteuren und geflohenen Häftlingen gebildet hatten. Die Gestapo unterstellte ihnen Umsturzabsichten. Doch den meisten dieser Menschen, die sich teils bewaffneten und mit Diebstählen versorgten, ging es wohl eher darum, das Kriegsende lebend zu erreichen. Auch viele nicht von Verfolgung betroffene Kölner*innen nutzten das Chaos in der kriegszerstörten Stadt für Diebstähle, die drakonisch bestraft wurden.

Den Auftakt zur Eskalation der Gestapogewalt am Ende des Krieges markierte eine öffentliche Hinrichtung von elf ausländischen Zwangsarbeitern am Bahnhof Ehrenfeld am 25. Oktober 1944. Überlieferte Fotos zeigen, wie eine große Menschenmenge der Tat auf der Hüttenstraße am helllichten Tag zusah. Der Historiker Markus Günnewig, der die Endphaseverbrechen erforscht hat, wird hierüber anlässlich des 80. Jahrestags am nächsten Donnerstag, den 24. Oktober, im NS-DOK referieren.

Die Hinrichtung in Ehrenfeld markierte auch eine Veränderung in der Beziehung zwischen Köln und dem Konzentrationslager Buchenwald. Das 1937 errichtete KZ war unter anderem für die Aufnahme von Häftlingen zuständig, die regionale Gestapo- und Kripostellen aus Westdeutschland, so auch aus Köln, in sogenannte Schutzhaft oder Vorbeugungshaft nahmen. Bis Herbst 1944 bildeten osteuropäische Zwangsarbeiter*innen unter ihnen eine der größten Gruppen. Sie waren zur Arbeit nach Köln verschleppt worden und wurden für tatsächliche oder vermeintliche Verstöße gegen die für sie geltenden rassistischen Sonderregelungen vielfach nach Buchenwald überstellt. Nun hingegen erhielt die Kölner Gestapo die Ermächtigung, diese Menschen selbst vor Ort hinzurichten. Bis zur Befreiung im März 1945 wurden so über 400 Gestapo-Häftlinge im Hof des EL-DE-Hauses ermordet.

Andere, die in Köln ins Visier der Gestapo gerieten, wurden in der Kriegsendphase weiterhin nach Buchenwald verschleppt. Darunter die Opfer der „Aktion Gewitter“, eine der letzten Verhaftungsaktionen von Regimegegner*innen: Ende August 1944 hatte die Kölner Gestapo zahlreiche ehemalige Funktionäre von SPD, KPD und Zentrum verhaftet, um nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler potenzielle Träger einer neuen Opposition auszuschalten. Unter den Verhafteten, die im Messelager Deutz eingesperrt wurden, befand sich auch Konrad Adenauer. Während dieser nach einigen Wochen entlassen wurde, transportierte die Gestapo andere Betroffene, darunter den ehemaligen christlichen Gewerkschaftsfunktionär und Zentrumspolitiker Otto Gerig, Mitte September 1944 nach Buchenwald. Die katastrophalen Bedingungen im völlig überfüllten Konzentrationslager überlebte Gerig nur zwei Wochen. Am 5. Oktober 1944 schrieb die Lagerverwaltung seiner in Köln lebenden Frau Hanna, dass er zwei Tage zuvor gestorben war.

Köln und Buchenwald waren im Nationalsozialismus durch viele solcher Geschichten verbunden. Eine zweite wichtige Verbindung bestand umgekehrt in Transporten, mit denen Hunderte Häftlinge aus Buchenwald ab 1942 zur Zwangsarbeit in das Messelager und weitere KZ-Außenlager auf Kölner Stadtgebiet gelangten. Aufgrund dieser Verbindungen ist die Zukunft der Gedenkstätte Buchenwald in dieser unsicheren politischen Zeit in Thüringen ein Thema, das auch uns direkt angeht.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

Die mörderische Ideologie des Antisemitismus

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom 11.9.2024

Die Wahlen in Thüringen und Sachsen liegen jetzt eineinhalb Wochen zurück, aber sie beschäftigen mich und das Team des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln immer noch stark. Wie Jens-Christian Wagner, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, vergangene Woche schrieb, ist der Wahlerfolg der AfD erschütternd und deprimierend. Herr Wagner hat sich vor den Wahlen mit beeindruckender Klarheit und Beharrlichkeit für die Demokratie und gegen Geschichtsrevisionismus eingesetzt – und wird nun massiv bedroht.

Aus dem mehr als vier Fahrtstunden von Buchenwald entfernten Köln, mag manchen die dortige Situation weit weg vorkommen – und tatsächlich bin ich froh, dass wir hier in anderen politischen Verhältnissen leben. Doch auch in Köln erhielt die AfD bei den Europawahlen im Juni erstmals in einem Stadtteil die meisten Stimmen. Und wenngleich nicht so oft wie in Buchenwald, so kommt es auch im NS-DOK immer wieder zu extrem rechten oder antisemitischen Vorfällen. Erst kürzlich hinterließ uns ein Besucher der Dauerausstellung wieder einmal ein akkurat gemaltes Hakenkreuz.

Das NS-DOK und die Gedenkstätte Buchenwald befinden sich beide an historischen Orten. Hier die ehemalige Gestapozentrale der westdeutschen Metropole, dort eines der wichtigsten Konzentrationslager des NS-Terrorsystems. Doch zugleich unterscheiden sich die Orte, historisch wie in ihren Aufgaben. Buchenwald ist heute nicht nur ein Ort der Bildung und des Gedenkens, sondern auch ein Friedhof. Die baulichen Relikte bezeugen die Massenverbrechen. Ihr Erhalt ist eine wichtige, oft wenig beachtete Aufgabe, die viel Geld benötigt. Das NS-DOK liegt als kommunale Einrichtung mitten in der Großstadt und widmet sich mit der Info- und Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus, der Mobilen Beratung und der Fachstelle gegen Antisemitismus, neben der Geschichte stärker auch gegenwartsbezogenen Fragen.

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle darüber schreiben, was Köln und das KZ Buchenwald historisch verband – anhand von Beispielen, die ab morgen in unserer neuen Ausstellung über „Kritik im Nationalsozialismus“ im EL-DE-Haus präsentiert werden. Doch die ersten Sätze der Kolumne hatte ich vergangenen Donnerstag gerade in den Computer getippt, als uns Meldungen über Schüsse vor dem NS-Dokumentationszentrum München und dem benachbarten israelischen Generalkonsulat erreichten. Kurz darauf erschien die Polizei im EL-DE-Haus, um uns zu informieren, dass sie die Bewachung erhöht.

Wie wir heute wissen, hatte der Täter, wie bei dem furchtbaren Anschlag in Solingen, einen islamistischen Hintergrund. Das Münchner NS-Dokumentationszentrum wurde von zwei Schüssen getroffen. Doch das eigentliche Ziel des Angriffs war wohl die Repräsentanz des Staates Israel, wie sich der Judenhass nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder gegen Israel richtet. Die sozialen Medien waren sofort voller Häme gegen die vielfältige Gesellschaft, voller rassistischer Hetze und Rufen nach massenhafter „Remigration“, dieser verharmlosenden Parole, die nicht zuletzt die Wahlsieger von Thüringen in den letzten Monaten popularisiert haben.

Es steht zu befürchten, dass die Taten von Solingen und München der extremen Rechten weiter Auftrieb geben werden. Dabei sind beide, Islamismus und Rechtsextremismus, unbestreitbar zentrale Bedrohungen für eine demokratisch verfasste Gesellschaft, die auf Menschenrechten und Gleichheitsvorstellungen basiert. Beide haben trotz vieler Unterschiede zudem Gemeinsamkeiten – nicht zuletzt die mörderische Ideologie des Antisemitismus.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

 

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