Schlagwort: Antisemitismus

Ist Köln eine politische Insel der Seligen?

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom
16. November 2024

Die vorvergangene Woche stand in Köln im Zeichen des Gedenkens an die NS-Verfolgten. Sie war zugleich wieder einmal geprägt von Ereignissen außerhalb der Stadt, die Kopfschütteln und Fragezeichen hinterlassen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und mit gegenwärtigen Herausforderungen kennzeichnet das Profil des NS-Dok. Und doch ist es mitunter schwierig, mit der Gleichzeitigkeit umzugehen. Leben wir in Köln – wie ich in Gesprächen immer wieder höre – auf einer Insel der Seligen, wenigstens, was die politische Lage angeht? Oder sehen viele nur nicht, welche Entwicklungen sich schon vollziehen und abzeichnen?

Am Dienstag verlegten die Kolleg*innen mit dem Künstler Gunter Demnig und engagierten Bürger*innen zahlreiche neue Stolpersteine. Angehörige jüdischer ehemaliger Kölner*innen waren für die Verlegungen angereist, suchten anschließend im NS-Dok den Austausch und sahen Quellen zur Familiengeschichte ein. Währenddessen flog in Sachsen, Jens-Christian Wagner hat hierüber geschrieben, die nächste mutmaßliche rechte Terrorgruppe auf, deren personelle Verbindungen zum AfD-Jugendverband „Junge Alternative“ kaum mehr überraschen. Mittwochvormittags sprachen wir im Vorstand des Verbands der Gedenkstätten in Deutschland über den jüngsten Entwurf zur Neufassung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, die in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden sollte. Nachmittags bereiteten wir im NS-Dok die Verlängerung des Projekts der „Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus“ vor, das aus Bundesmitteln kofinanziert wird. Abends platzte die Koalitionsregierung in Berlin und ich fragte mich nicht nur, welche Auswirkungen dies auf das haben wird, woran wir tagsüber gearbeitet hatten, sondern auch, was baldige Neuwahlen für das Risiko eines weiteren Erstarkens der extremen Rechten bedeuten werden.

Am Donnerstagabend feierten wir im NS-Dok die Verleihung des Bilz-Preises an die Initiative „Stimmen der Solidarität“, die sich mit bewundernswerter Ausdauer für politisch Inhaftierte in der Türkei und im Iran einsetzt. Beim Empfang kreisten viele Gespräche um die Ereignisse des Vorabends und die Auswirkungen vorgezogener Bundestagswahlen mit Blick auf die AfD. Kurze Zeit später wurden in Amsterdam am Rande eines Fußballspiels Juden von sogenannten propalästinensischen Demonstranten angegriffen und durch die Straßen gejagt.

Freitagvormittags die Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Pogromnacht in der Synagoge Roonstraße. Schüler*innen stellten in eindrucksvollen Beiträgen Biografien verfolgter Kölner Jüdinnen und Juden vor und reflektierten in Gedichten über die Erinnerungskultur. Abraham Lehrer, Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln, fand klare Worte zu den Vorfällen in Amsterdam und zur politischen Lage hierzulande. Der Alltag vieler Kölner Jüdinnen und Juden ist angesichts unzähliger antisemitischer Vorfälle in Deutschland und Europa weit von Normalität entfernt. Gemessen am Vorjahr war die Beteiligung der Kölner Stadtgesellschaft am Gedenken eher gering. Dies war hoffentlich der außergewöhnlichen Uhrzeit geschuldet und kein Zeichen dafür, dass die Solidarität mit der jüdischen Gemeinde ein Jahr nach dem mörderischen Terror der Hamas gegen Israel deutlich nachgelassen hat.

Zum Wochenabschluss fand am Sonntag das Gedenken zum 80. Jahrestag der zweiten öffentlichen Hinrichtung in Ehrenfeld am 10. November 1944 statt. Ohne ein Gerichtsurteil ermordete die Gestapo damals mitten in der Stadt am helllichten Tag 13 Männer und Jugendliche. Viel gäbe es zu schreiben, über den langen Streit um die Einordnung dieser Tat und die Anerkennung der Ermordeten, über die stigmatisierende Bezeichnung von NS-Opfern als „Kriminelle“, was eine jahrzehntelange Ausgrenzung zufolge hatte, aber auch über den Begriff „Widerstandskämpfer“, der vermeintlich Klarheit suggeriert, wo es darum gehen müsste, Graubereiche und Ambivalenzen auszuleuchten. Doch die aktuellen politischen Ereignisse nehmen derzeit gedanklich und in Gesprächen viel Raum ein und es erscheint mir falsch, auf diese Gleichzeitigkeit nicht einzugehen.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

Die Erinnerungskultur in Deutschland ist bedroht

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom 5. Oktober 2024

Henning Borggräfe bei einer Ansprache im NS-DOK (Foto HB)

Ende letzter Woche war ich in Weimar, um als Delegierter der NS-Gedenkstätten in NRW an der jährlichen Gedenkstättenkonferenz teilzunehmen. Auf Einladung Jens-Christian Wagners und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, ging es dort um den „Kulturkampf von Rechts: Gefahren und Gegenstrategien.“

Während sich zeitgleich wenige Kilometer entfernt in Erfurt bei der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags die Auswirkungen des AfD-Wahlerfolgs auf das Funktionieren des Parlaments abzeichneten, zeigten Berichte und Lageeinschätzungen von Kolleginnen und Kollegen aus Thüringen, aber auch aus Sachsen, wie sehr die politische Stimmung gekippt, wie sehr die demokratische Zivilgesellschaft und mit ihr die Erinnerungskultur bedroht ist. Neben der Kernaufgabe der Vermittlung eines kritischen Geschichtsbewusstseins wird es für die NS-Gedenkstätten so fast zwangsläufig zu einer weiteren Aufgabe, sich vor Ort auch politisch einzumischen.

Die Gedenkstättenkonferenz ist eines von jährlich zwei großen Treffen für Vertreter*innen der etwa 300 Gedenkstätten, Dokumentationszentren und Erinnerungsorte zur Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland. Das zweite, das bundesweite Gedenkstättenseminar, welches einen Fokus auf die Bildungsarbeit legt, fand bereits im Juni in Berlin statt. Es stand ganz unter dem Eindruck der anderen politischen Herausforderung für unsere Orte in dieser Zeit: der starken Zunahme des Antisemitismus in Deutschland infolge des mörderischen Terrorangriffs auf Israel am 7. Oktober 2023.

Neben den unsäglichen Anfeindungen und Übergriffen gegenüber Jüdinnen und Juden geht sie mit einer Vielzahl antisemitischer Attacken auf die Erinnerungskultur einher. Vielerorts wurden im letzten Jahr Sachbeschädigungen, Schmierereien und Beleidigungen verzeichnet. Auch ein Jahr danach sind die Gedenkstätten, gerade in NRW, intensiv damit beschäftigt, antisemitischen Äußerungen und besonders dem teils ungehemmten Hass auf Israel in der Bildungsarbeit zu begegnen, zu informieren und aufzuklären.

Mindestens ebenso wichtig ist die Solidarität mit den jüdischen Gemeinden und den hier lebenden Jüdinnen und Juden. Eine Aufgabe der Fachstelle gegen Antisemitismus im NS-Dok ist es, Betroffene zu unterstützen. Zum Jahrestag des Terrorangriffs auf Israel veröffentlichen wir eine neue Broschüre, die jüdischen Eltern dabei helfen soll, mit ihren Kindern über Antisemitismus zu sprechen. Es ist ein trauriges Zeugnis für den Zustand dieser Gesellschaft, dass wir dieses Werk überhaupt herausgeben müssen.

Der Umgang mit der Gefahr des Antisemitismus darf kein Thema sein, dass wir jüdischen Eltern und ihren Kindern überlassen. Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine Aufgabe, die alle angeht. Judenhass darf keinen Platz in dieser Gesellschaft haben. Wir müssen alles dafür tun, unsere Kinder in einem Umfeld des Respekts, der Sicherheit und der Offenheit großzuziehen.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

Die mörderische Ideologie des Antisemitismus

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom 11.9.2024

Die Wahlen in Thüringen und Sachsen liegen jetzt eineinhalb Wochen zurück, aber sie beschäftigen mich und das Team des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln immer noch stark. Wie Jens-Christian Wagner, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, vergangene Woche schrieb, ist der Wahlerfolg der AfD erschütternd und deprimierend. Herr Wagner hat sich vor den Wahlen mit beeindruckender Klarheit und Beharrlichkeit für die Demokratie und gegen Geschichtsrevisionismus eingesetzt – und wird nun massiv bedroht.

Aus dem mehr als vier Fahrtstunden von Buchenwald entfernten Köln, mag manchen die dortige Situation weit weg vorkommen – und tatsächlich bin ich froh, dass wir hier in anderen politischen Verhältnissen leben. Doch auch in Köln erhielt die AfD bei den Europawahlen im Juni erstmals in einem Stadtteil die meisten Stimmen. Und wenngleich nicht so oft wie in Buchenwald, so kommt es auch im NS-DOK immer wieder zu extrem rechten oder antisemitischen Vorfällen. Erst kürzlich hinterließ uns ein Besucher der Dauerausstellung wieder einmal ein akkurat gemaltes Hakenkreuz.

Das NS-DOK und die Gedenkstätte Buchenwald befinden sich beide an historischen Orten. Hier die ehemalige Gestapozentrale der westdeutschen Metropole, dort eines der wichtigsten Konzentrationslager des NS-Terrorsystems. Doch zugleich unterscheiden sich die Orte, historisch wie in ihren Aufgaben. Buchenwald ist heute nicht nur ein Ort der Bildung und des Gedenkens, sondern auch ein Friedhof. Die baulichen Relikte bezeugen die Massenverbrechen. Ihr Erhalt ist eine wichtige, oft wenig beachtete Aufgabe, die viel Geld benötigt. Das NS-DOK liegt als kommunale Einrichtung mitten in der Großstadt und widmet sich mit der Info- und Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus, der Mobilen Beratung und der Fachstelle gegen Antisemitismus, neben der Geschichte stärker auch gegenwartsbezogenen Fragen.

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle darüber schreiben, was Köln und das KZ Buchenwald historisch verband – anhand von Beispielen, die ab morgen in unserer neuen Ausstellung über „Kritik im Nationalsozialismus“ im EL-DE-Haus präsentiert werden. Doch die ersten Sätze der Kolumne hatte ich vergangenen Donnerstag gerade in den Computer getippt, als uns Meldungen über Schüsse vor dem NS-Dokumentationszentrum München und dem benachbarten israelischen Generalkonsulat erreichten. Kurz darauf erschien die Polizei im EL-DE-Haus, um uns zu informieren, dass sie die Bewachung erhöht.

Wie wir heute wissen, hatte der Täter, wie bei dem furchtbaren Anschlag in Solingen, einen islamistischen Hintergrund. Das Münchner NS-Dokumentationszentrum wurde von zwei Schüssen getroffen. Doch das eigentliche Ziel des Angriffs war wohl die Repräsentanz des Staates Israel, wie sich der Judenhass nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder gegen Israel richtet. Die sozialen Medien waren sofort voller Häme gegen die vielfältige Gesellschaft, voller rassistischer Hetze und Rufen nach massenhafter „Remigration“, dieser verharmlosenden Parole, die nicht zuletzt die Wahlsieger von Thüringen in den letzten Monaten popularisiert haben.

Es steht zu befürchten, dass die Taten von Solingen und München der extremen Rechten weiter Auftrieb geben werden. Dabei sind beide, Islamismus und Rechtsextremismus, unbestreitbar zentrale Bedrohungen für eine demokratisch verfasste Gesellschaft, die auf Menschenrechten und Gleichheitsvorstellungen basiert. Beide haben trotz vieler Unterschiede zudem Gemeinsamkeiten – nicht zuletzt die mörderische Ideologie des Antisemitismus.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

 

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