Kategorie: Brandbriefe (Seite 2 von 2)

Die mörderische Ideologie des Antisemitismus

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom 11.9.2024

Die Wahlen in Thüringen und Sachsen liegen jetzt eineinhalb Wochen zurück, aber sie beschäftigen mich und das Team des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln immer noch stark. Wie Jens-Christian Wagner, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, vergangene Woche schrieb, ist der Wahlerfolg der AfD erschütternd und deprimierend. Herr Wagner hat sich vor den Wahlen mit beeindruckender Klarheit und Beharrlichkeit für die Demokratie und gegen Geschichtsrevisionismus eingesetzt – und wird nun massiv bedroht.

Aus dem mehr als vier Fahrtstunden von Buchenwald entfernten Köln, mag manchen die dortige Situation weit weg vorkommen – und tatsächlich bin ich froh, dass wir hier in anderen politischen Verhältnissen leben. Doch auch in Köln erhielt die AfD bei den Europawahlen im Juni erstmals in einem Stadtteil die meisten Stimmen. Und wenngleich nicht so oft wie in Buchenwald, so kommt es auch im NS-DOK immer wieder zu extrem rechten oder antisemitischen Vorfällen. Erst kürzlich hinterließ uns ein Besucher der Dauerausstellung wieder einmal ein akkurat gemaltes Hakenkreuz.

Das NS-DOK und die Gedenkstätte Buchenwald befinden sich beide an historischen Orten. Hier die ehemalige Gestapozentrale der westdeutschen Metropole, dort eines der wichtigsten Konzentrationslager des NS-Terrorsystems. Doch zugleich unterscheiden sich die Orte, historisch wie in ihren Aufgaben. Buchenwald ist heute nicht nur ein Ort der Bildung und des Gedenkens, sondern auch ein Friedhof. Die baulichen Relikte bezeugen die Massenverbrechen. Ihr Erhalt ist eine wichtige, oft wenig beachtete Aufgabe, die viel Geld benötigt. Das NS-DOK liegt als kommunale Einrichtung mitten in der Großstadt und widmet sich mit der Info- und Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus, der Mobilen Beratung und der Fachstelle gegen Antisemitismus, neben der Geschichte stärker auch gegenwartsbezogenen Fragen.

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle darüber schreiben, was Köln und das KZ Buchenwald historisch verband – anhand von Beispielen, die ab morgen in unserer neuen Ausstellung über „Kritik im Nationalsozialismus“ im EL-DE-Haus präsentiert werden. Doch die ersten Sätze der Kolumne hatte ich vergangenen Donnerstag gerade in den Computer getippt, als uns Meldungen über Schüsse vor dem NS-Dokumentationszentrum München und dem benachbarten israelischen Generalkonsulat erreichten. Kurz darauf erschien die Polizei im EL-DE-Haus, um uns zu informieren, dass sie die Bewachung erhöht.

Wie wir heute wissen, hatte der Täter, wie bei dem furchtbaren Anschlag in Solingen, einen islamistischen Hintergrund. Das Münchner NS-Dokumentationszentrum wurde von zwei Schüssen getroffen. Doch das eigentliche Ziel des Angriffs war wohl die Repräsentanz des Staates Israel, wie sich der Judenhass nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder gegen Israel richtet. Die sozialen Medien waren sofort voller Häme gegen die vielfältige Gesellschaft, voller rassistischer Hetze und Rufen nach massenhafter „Remigration“, dieser verharmlosenden Parole, die nicht zuletzt die Wahlsieger von Thüringen in den letzten Monaten popularisiert haben.

Es steht zu befürchten, dass die Taten von Solingen und München der extremen Rechten weiter Auftrieb geben werden. Dabei sind beide, Islamismus und Rechtsextremismus, unbestreitbar zentrale Bedrohungen für eine demokratisch verfasste Gesellschaft, die auf Menschenrechten und Gleichheitsvorstellungen basiert. Beide haben trotz vieler Unterschiede zudem Gemeinsamkeiten – nicht zuletzt die mörderische Ideologie des Antisemitismus.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

 

Noch ist die AfD keine NSDAP 2.0

Historiker Jens-Christian Wagner über Lehren aus dem Wahlausgang in Thüringen

Drei Tage nach der Landtagswahl in Thüringen hat sich an meinem Entsetzen von Sonntagabend nicht viel geändert: Für jemanden, der sich beruflich der kritischen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen widmet, ist es erschütternd und deprimierend, wenn erstmals seit 1945 Rechtsextreme in einem Bundesland mit knapp einem Drittel der Stimmen stärkste Partei werden. Und in Sachsen sieht es kaum besser aus: Auch dort hat die AfD gut 30 Prozent der Wählerstimmen geholt.

Für die Gedenkstätten ist der Wahlerfolg der AfD bitter. Notorisch verharmlosen Politiker der AfD die NS-Verbrechen und diskreditieren die Erinnerungskultur als „Schuldkult“ – ein Begriff, den der ehemalige SS-Unterscharführer und spätere rechtsextreme „Republikaner“-Chef Franz Schönhuber Anfang der 1980er Jahre in die Welt gesetzt hat und der später von der AfD aufgegriffen wurde. Dahinter steht die geschichtsrevisionistische Legende, die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und die Würdigung ihrer Opfer dienten „fremden Mächten“, vorzugsweise den Juden, dazu, Deutschland kleinzuhalten bzw. seine „Selbstfindung“ zu verhindern, wie der Thüringer AfD-Chef Höcke kürzlich auf X, vormals Twitter, schrieb. Höcke ist es auch, der ständig von „raumfremden Mächten“ raunt, die aus Deutschland vertrieben werden müssten. Raumfremde Mächte – das ist ein Begriff, den der NS-Staatsrechtler Carl Schmitt 1941 eingeführt hat, mitten im Zweiten Weltkrieg.

Dass die AfD ausgerechnet in Thüringen erstmals stärkste Kraft wird, ist bitter und weckt historische Assoziationen, blicken wir historisch doch auf drei Thüringer Sündenfälle auf dem Weg zum NS-Staat: 1924 die erste Tolerierung einer bürgerlichen Minderheitsregierung durch Nationalsozialisten im Deutschen Reich, 1930 die erste Koalitionsregierung mit Nationalsozialisten und 1932 die erste NSDAP-geführte Landesregierung. Thüringen, von den Nazis als „Schutz- und Trutzgau“ bezeichnet, war für die NSDAP ein Experimentierfeld und Sprungbrett auf dem Weg zur Macht in ganz Deutschland.

Nun ist die AfD trotz aller ideologischen Ähnlichkeiten keine NSDAP 2.0, zumindest noch nicht. 1924 ist nicht gleich 1933. Die Unterschiede liegen aber weniger in der Programmatik der beiden Parteien als im historischen Kontext. Die Weimarer Republik stand nicht nur unter Beschuss durch die NSDAP, sondern auch von links, nämlich durch die stalinistische KPD. Diese Gefahr gibt es heute nicht. Unterschied Nr. 2: Weimar war eine Republik ohne Republikaner. Heute stehen die meisten Menschen in Deutschland und auch in Thüringen fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Vergessen wir nicht: 70 Prozent der Thüringer haben die AfD nicht gewählt. Der dritte Unterschied: Anfang der 1930er Jahre herrschte in Deutschland infolge der Weltwirtschaftskrise blanke Not. Heute geht es den meisten Deutschen so gut wie noch nie.

Der vierte Unterschied hat mit historischen Kenntnissen zu tun: Anders als die Zeitgenossen des Jahres 1933 wissen wir, wie das damals ausgegangen ist. Und das verpflichtet uns, wachsam zu sein, und die demokratischen Parteien im Thüringer Landtages mahnt dieses Wissen, jegliche Zusammenarbeit mit den Rechtsextremen zu unterlassen.

KStA 4. September 2024

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

 

 

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