Jens-Christian Wagner im Kölner Stadtanzeiger vom 7.12.2024
In den vergangenen 30 Jahren wurden die Gedenkstätten stark ausgebaut. Mittlerweile gibt es in Deutschland rund 300 Gedenk- und Bildungsstätten, die an den Nationalsozialismus und seine Opfer erinnern. Zugleich erleben wir seit 2015 mit den Wahlerfolgen der AfD den Aufstieg einer Partei, aus deren Reihen die Gedenkstättenarbeit als „Schuldkult“ diskreditiert wird und deren Funktionäre notorisch Holocaust-Verharmlosung verbreiten. Besonders große Zustimmung fand die AfD bei den letzten Landtagswahlen bei jungen Wählerinnen und Wählern – Menschen, die vermutlich vor gar nicht allzu langer Zeit mit ihrer Schulklasse eine Gedenkstätte besucht haben.
Wie kann es sein, dass diese Leute die AfD wählen und offenbar für geschichtsrevisionistische Parolen empfänglich sind? Nun wäre es falsch, für die hohen Zustimmungswerte der extrem Rechten die Gedenkstätten verantwortlich zu machen. Der Rechtsruck in Deutschland und weltweit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, dem sich alle stellen müssen, allen voran die demokratischen Parteien, aber auch die Unternehmen, die Gewerkschaften, die Schulen, die Medien und nicht zuletzt jeder einzelne: in der Familie, im Freundeskreis, im Betrieb, im Verein.
Zudem haben die Gedenkstätten zu Recht immer davor gewarnt, sie als demokratische Läuterungsanstalten wahrzunehmen: Niemand wird zu einem besseren Menschen und überzeugten Demokraten, nur weil er einmal eine Gedenkstätte besucht hat. Gedenkstättenbesuche sind keine Schutzimpfung gegen rechts. Gleichwohl müssen wir uns die Frage stellen, ob unsere Erinnerungskultur, auf die viele in Deutschland so stolz sind, nicht auch Defizite aufweist. Das fängt schon mit Begrifflichkeiten an: An was sollen sich eigentlich 16-jährige Schüler „erinnern“, wenn sie eine Gedenkstätte wie Buchenwald besuchen? Auf sie wirkt der Appell, sich an etwas erinnern zu sollen, was mittlerweile selbst ihre Großeltern nicht mehr selbst erlebt haben, als Überforderung, die leicht in Abwehr münden kann. Am besten wäre es, den Begriff der Erinnerung aus der Geschichtskultur zu streichen. Statt um affirmative Erinnerung geht es um Reflexion, um den kritischen Blick auf Geschichte und Gegenwart. Ein weiteres Manko unserer „Erinnerungskultur“ ist ihr Opferzentrismus. Sicherlich, im Sinne der Würdigung stehen die Opfer im Mittelpunkt, es sollen schließlich nicht die Täter geehrt werden. Aber historisch-politische Bildung muss doch nicht nur danach fragen, wer die Opfer waren, sondern auch, wer sie zum Opfer gemacht hat. Das heißt, dass nach den Tätern und Mittätern, nach den Profiteuren und den Zuschauern gefragt werden muss – und danach, wie die NS-Gesellschaft als radikal rassistisch und antisemitisch formierte „Volksgemeinschaft“ funktionierte, eine Gemeinschaft, die sich vor allem darüber definierte, wer nicht dazu gehörte und ausgegrenzt, verfolgt und am Ende vielfach auch ermordet wurde. Es gilt, sich gesellschaftsgeschichtlich mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu beschäftigen und danach zu fragen, was die meisten Deutschen zum Mitmachen motivierte. Verheißungen der Ungleichheit und Ideologien der Ungleichwertigkeit spielten da eine große Rolle, wie auch die öffentliche Kriminalisierung der Ausgegrenzten, die der Mehrheitsbevölkerung als gefährliche Feinde präsentiert wurden.
Doch statt eines kritischen Blicks auf die NS-Gesellschaft erleben wir – weniger in der Gedenkstättenarbeit als in der normativen Rhetorik der Erinnerung – überwiegend eine Fokussierung auf die Opfer, nicht selten sogar eine Identifikation, was seitens der Post-Tätergesellschaft eine Anmaßung ist. Aber es scheint eben einfacher zu sein, mit und um Opfer zu trauern und sich damit gewissermaßen selbst moralisch zu überhöhen, als Fragen nach den Hintergründen der Verbrechen zu stellen. Solche Fragen könnten mit Blick auf die eigene Familiengeschichte auch wehtun; deswegen werden sie zu wenig gestellt. Stattdessen blendet das bloße Trauern um die Opfer alles aus, was die Verbrechen erst ermöglichte: mörderischer Rassismus, Antisemitismus und Antikommunismus, Antiliberalismus, die Unterscheidung zwischen wertvollen „Produktiven“ und wertlosen „Unproduktiven“, soziale Aufstiegsversprechungen, Nationalismus sowie Eroberungs- und Vernichtungsfantasien.
Eine derart entkontextualisierte Erinnerungskultur, die eher eine Verdrängungskultur ist, wirkt entlastend. Es ist eine Wohlfühl-Erinnerungskultur, die niemandem wehtut – außer den Opfern und ihren Angehörigen, die fühlen, dass sie instrumentalisiert werden. Am perfidesten zeigte dies im vergangenen Jahr ein Twitter-Post hochrangiger AfD-Bundestagsabgeordneter um Beatrix von Storch, die zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar ein Foto von sich posteten, wie sie Tafeln mit der Inschrift „#weremember“ hochhalten. Hier wurde die Entkontextualisierung auf die Spitze getrieben und das Schlagwort von der „Erinnerung“ zu einer ahistorischen Worthülse degradiert.
Das „Versöhnungstheater“, wie der Publizist Max Czollek diese Art von Erinnerungskultur nennt, müssen wir durch eine wirkliche kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte ersetzen – wissenschaftlich fundiert und quellengestützt, sauber aus der Geschichte heraus argumentierend und zugleich immer auch mit einer in die Gegenwart gerichteten Perspektive: Wie sieht es denn heute mit Verheißungen der Ungleichheit aus oder mit Rassismus und Antisemitismus?
Eine solchermaßen erneuerte Erinnerungskultur wird die Rechtsextremen und ihre menschenfeindlichen Ideologien nicht allein zurückdrängen können. Aber sie kann helfen, Geschichtsbewusstsein und historische Urteilskraft in der Gesellschaft zu stärken – und das Bewusstsein der Menschen dafür, welche Relevanz die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen für unsere demokratische Selbstverständigung und die Achtung von Demokratie und Menschenrechten hat. Das Grundgesetz regelt nicht nur das Zusammenleben der Menschen in Deutschland, sondern war 1949 auch eine Antwort auf die NS-Verbrechen. Nicht umsonst heißt es in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Würde des Menschen, nicht nur des Deutschen.