Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom
2. November 2024

 In der vergangenen Woche schrieb Jens-Christian Wagner über Akteure der extremen Rechten in Thüringen, deren Geschichtsrevisionismus Elemente der alten DDR-Geschichtspolitik aufgreift, was in breiteren Bevölkerungskreisen auf Zustimmung stößt. Dies ist Ausdruck einer neuen Situation, die sich schon während der Corona-Pandemie und bei Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine abzeichnete: der Rechtsextremismus ist in seinen Erscheinungsformen diffuser geworden, und es entstehen neue Allianzen.

Auch in Köln war dies zuletzt wiederholt zu beobachten. So organisierte der einschlägig bekannte Markus Beisicht, einst führender Kopf der rechtsextremen „Bürgerbewegung pro NRW“, gemeinsam mit prorussischen Aktivisten mehrfach Autokorsos und Demonstrationen „für den Frieden“ und gegen eine vermeintliche „Fremdbestimmung und Besatzung“ Deutschlands durch die USA. Am 6. Mai 2023 versuchten sie, mit einer solchen Demonstration vor das EL-DE-Haus zu ziehen. Zuvor hatte das NS-DOK ihnen verwehrt, den Innenhof der Gedenkstätte für eine propagandistische Inszenierung zum Jahrestag des Kriegsendes 1945 zu nutzen. Fotos dieser Demonstration zeigen deutsche Rechtsextremisten hinter Sowjetunion-Fahnen und Porträts von Soldaten der Roten Armee – ein bizarres Bild.

Putinversteher am 6. Mai 2023 bei dem EL-DE-Haus (Foto: HB)

Ein ähnlicher Instrumentalisierungsversuch folgte im Mai 2024 an der Gedenkstätte im Gremberger Wäldchen, Schauplatz des letzten großen NS-Verbrechens in Köln. Im April 1945, während die Amerikaner die linksrheinischen Stadtviertel schon befreit hatten, ermordeten lokale NSDAP-Funktionäre, Volkssturmmänner und Hitlerjungen bei der Räumung des sogenannten Krankensammellagers im Gremberger Wäldchen zahlreiche dort ausharrende ausländische Zwangsarbeiter. Zwei führende Protagonisten der prorussischen Proteste sind zwischenzeitlich nach St. Petersburg geflohen, um einer Strafverfolgung in Deutschland zu entgehen. Dennoch muss auch zum 80. Jahrestag des Kriegsendes im Mai 2025 mit Vereinnahmungen der NS-Opfer für rechtsextreme und prorussische Propaganda gerechnet werden.

Die aus der Sowjetunion stammenden jungen Frauen und Männer, unter ihnen sehr viele aus dem Gebiet der heutigen Ukraine, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden, werden rückblickend zu russischen Opfern erklärt und für die gegenwärtige Kriegspropaganda vereinnahmt. Tatsächlich sind jedoch zahlreiche dieser heute hochbetagten Menschen und ihre Familien in der Ukraine tagtäglich von russischen Bomben und Raketen bedroht und leiden unter der schwierigen Versorgungslage. Andere sind durch die Angriffe gewaltsam ums Leben gebracht worden – wie der ehemalige Buchenwald-Häftling Boris Romantschenko.

Das NS-DOK steht wie die Gedenkstätte Buchenwald und andere Gedenkstätten seit den 1990er Jahren mit vielen ehemaligen NS-Verfolgten und ihren Familien in der Ukraine in Kontakt. Um sie zu unterstützen, entstand bereits im März 2022 das „Hilfsnetzwerk für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine“. Wenngleich die Aufmerksamkeit für den Krieg in der Ukraine in der deutschen Öffentlichkeit nachgelassen hat, wird Hilfe weiterhin dringend benötigt. Hilfe benötigen aber auch die oft selbstorganisierten Erinnerungsorte an den Holocaust, die nach dem Zerfall der Sowjetunion in der Ukraine entstanden. Dies gilt etwa für das 2009 gegründete Holocaustmuseum in Odessa, getragen von einer regionalen Vereinigung jüdischer Überlebender, deren Vorsitzenden Roman Shvartsman wir kürzlich im NS-DOK kennenlernen durften. Bei der Kölner Museumsnacht am heutigen Samstag haben Sie im NS-DOK die Möglichkeit, sich über die Arbeit des Hilfsnetzwerks und das Museum in Odessa zu informieren und sie zu unterstützen.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.