Jens-Christian Wagner im Kölner Stadtanzeiger vom 28.9.2024
Nach der Landtagswahl in Thüringen ist die Lage desolat. Die geschichts-revisionistische und vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestufte AfD ist mit fast 33 Prozent der abgegebenen Stimmen stärkste Fraktion im Landtag und hat eine Sperrminorität. Allein das wird ihr helfen, die politische Agenda in Thüringen mitzubestimmen. Hinzu kommt, dass jede mögliche Regierungsvariante ein Schaden für die Demokratie wäre: Eine demokratische Mehrheitsregierung kann nur zustande kommen, wenn sich alle anderen Parteien auf eine Koalition einigen, was angesichts des Unvereinbarkeitsbeschlusses der CDU gegenüber der Linken vermutlich nicht möglich sein wird. Es bliebe als Möglichkeit eine Minderheits- oder „Patt“-Regierung aus CDU, BSW und SPD, die von der Linken formal oder informell toleriert wird.
In jedem Fall hätte das BSW, eine nationalpopulistische, Putin-treue Kaderpartei, die antiwestliche und antiliberale Ressentiments bewirtschaftet, ein großes Erpressungspotential gegenüber der CDU. Der AfD wiederum würde eine Dreier- oder Viererkoalition nutzen, um ihr Opfernarrativ zu verbreiten, wonach sie von allen ausgegrenzt werde und im Land so etwas wie eine Nationale Front 2.0 herrsche, also ein diktatorisches Parteienbündnis wie zu Zeiten der DDR. Dieses Narrativ wird der AfD vermutlich zusätzliche Wähler in die Arme treiben.
Die zweite Regierungsvariante – eine Koalition von CDU und AfD oder BSW und AfD oder eine CDU-Regierung unter Tolerierung der AfD – wäre ein noch größerer Schaden für die Demokratie. Das würde rechtsextreme Narrative normalisieren und eine Politik zu Lasten aller bedeuten, die nicht in das völkische Weltbild der AfD passen. Die AfD käme ihrem Ziel, in Thüringen kulturelle Hegemonie zu erlangen, einen großen Schritt weiter.
Für die Demokratie in Thüringen herrscht mithin eine Loose-Loose-Situation. Was also tun? Eine AfD-getragene oder tolerierte Regierung wäre der Worst Case und muss unbedingt verhindert werden – gerade auch aus der Perspektive der Gedenkstättenarbeit. Eine geschichtsrevisionistische Partei, aus deren Reihen notorisch der Holocaust verharmlost oder sogar positive NS-Bezüge gesetzt werden, wäre eine Katastrophe für die Gedenkstättenarbeit. Nicht umsonst beobachten KZ-Überlebende und ihre Angehörigen die Lage in Thüringen mit banger Spannung.
Es bleibt also nur das kleinere Übel: eine Regierungsbildung unter Beteiligung mindestens von CDU, BSW und SPD unter Tolerierung der Linken. Eine solche Koalition zu schmieden ist eine Riesenaufgabe, um die ich den Thüringer CDU-Vorsitzenden Mario Voigt nicht beneide, zumal er ja auch noch mit mehr oder weniger kontraproduktiven „Ratschlägen“ aus Berlin und Saarbrücken konfrontiert ist.
Und dann geht es auch noch – völlig unabhängig von der Zusammensetzung der Regierung – um die Zusammenarbeit der Parteien im Landtag. Was es ganz praktisch bedeuten könnte, wenn der Landtagspräsident von der AfD gestellt wird, hat das unwürdige und undemokratische Schauspiel am Donnerstag gezeigt, als der Landtag eigentlich zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentreten sollte und der von der AfD gestellte Alterspräsident demokratische Mehrheitsentscheidungen mutmaßlich rechtswidrig verhindert hat, indem er Geschäftsordnungsanträge der demokratischen Fraktionen systematisch ignorierte und damit die Konstituierung des Landtags sabotierte.
Nicht nur aus diesem Grund müssen die demokratischen Fraktionen alles daran setzen, einen Landtagspräsidenten oder eine Präsidentin aus den Reihen der AfD zu verhindern. Immerhin ist der Landtagspräsident protokollarisch der höchste Repräsentant des Freistaates Thüringen. Wenn eine solche Position von einem oder einer Rechtsextremen besetzt würde, wäre das ein erheblicher Schaden für das Land.
Auch ein Vizepräsident der AfD würde die Demokratie beschädigen, es ist aber fraglich, ob sich das durchhalten lässt. Das gilt auch für die Ausschuss-vorsitzenden. Hier sollte aus Sicht der Gedenkstätten zumindest sichergestellt werden, dass die AfD nicht den Vorsitz im Kulturausschuss und im Bildungsausschuss erhält. Im Übrigen sollten sich alle demokratischen Parteien einig sein, dass es im Landtag keinerlei Zusammenarbeit mit der AfD geben darf. Es darf nicht sein, dass eine undemokratische Minderheit eine demokratische Mehrheit in Geiselhaft nimmt, wie es am Donnerstag im Landtag geschehen ist.