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Ist Köln eine politische Insel der Seligen?

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom
16. November 2024

Die vorvergangene Woche stand in Köln im Zeichen des Gedenkens an die NS-Verfolgten. Sie war zugleich wieder einmal geprägt von Ereignissen außerhalb der Stadt, die Kopfschütteln und Fragezeichen hinterlassen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und mit gegenwärtigen Herausforderungen kennzeichnet das Profil des NS-Dok. Und doch ist es mitunter schwierig, mit der Gleichzeitigkeit umzugehen. Leben wir in Köln – wie ich in Gesprächen immer wieder höre – auf einer Insel der Seligen, wenigstens, was die politische Lage angeht? Oder sehen viele nur nicht, welche Entwicklungen sich schon vollziehen und abzeichnen?

Am Dienstag verlegten die Kolleg*innen mit dem Künstler Gunter Demnig und engagierten Bürger*innen zahlreiche neue Stolpersteine. Angehörige jüdischer ehemaliger Kölner*innen waren für die Verlegungen angereist, suchten anschließend im NS-Dok den Austausch und sahen Quellen zur Familiengeschichte ein. Währenddessen flog in Sachsen, Jens-Christian Wagner hat hierüber geschrieben, die nächste mutmaßliche rechte Terrorgruppe auf, deren personelle Verbindungen zum AfD-Jugendverband „Junge Alternative“ kaum mehr überraschen. Mittwochvormittags sprachen wir im Vorstand des Verbands der Gedenkstätten in Deutschland über den jüngsten Entwurf zur Neufassung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, die in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden sollte. Nachmittags bereiteten wir im NS-Dok die Verlängerung des Projekts der „Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus“ vor, das aus Bundesmitteln kofinanziert wird. Abends platzte die Koalitionsregierung in Berlin und ich fragte mich nicht nur, welche Auswirkungen dies auf das haben wird, woran wir tagsüber gearbeitet hatten, sondern auch, was baldige Neuwahlen für das Risiko eines weiteren Erstarkens der extremen Rechten bedeuten werden.

Am Donnerstagabend feierten wir im NS-Dok die Verleihung des Bilz-Preises an die Initiative „Stimmen der Solidarität“, die sich mit bewundernswerter Ausdauer für politisch Inhaftierte in der Türkei und im Iran einsetzt. Beim Empfang kreisten viele Gespräche um die Ereignisse des Vorabends und die Auswirkungen vorgezogener Bundestagswahlen mit Blick auf die AfD. Kurze Zeit später wurden in Amsterdam am Rande eines Fußballspiels Juden von sogenannten propalästinensischen Demonstranten angegriffen und durch die Straßen gejagt.

Freitagvormittags die Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Pogromnacht in der Synagoge Roonstraße. Schüler*innen stellten in eindrucksvollen Beiträgen Biografien verfolgter Kölner Jüdinnen und Juden vor und reflektierten in Gedichten über die Erinnerungskultur. Abraham Lehrer, Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln, fand klare Worte zu den Vorfällen in Amsterdam und zur politischen Lage hierzulande. Der Alltag vieler Kölner Jüdinnen und Juden ist angesichts unzähliger antisemitischer Vorfälle in Deutschland und Europa weit von Normalität entfernt. Gemessen am Vorjahr war die Beteiligung der Kölner Stadtgesellschaft am Gedenken eher gering. Dies war hoffentlich der außergewöhnlichen Uhrzeit geschuldet und kein Zeichen dafür, dass die Solidarität mit der jüdischen Gemeinde ein Jahr nach dem mörderischen Terror der Hamas gegen Israel deutlich nachgelassen hat.

Zum Wochenabschluss fand am Sonntag das Gedenken zum 80. Jahrestag der zweiten öffentlichen Hinrichtung in Ehrenfeld am 10. November 1944 statt. Ohne ein Gerichtsurteil ermordete die Gestapo damals mitten in der Stadt am helllichten Tag 13 Männer und Jugendliche. Viel gäbe es zu schreiben, über den langen Streit um die Einordnung dieser Tat und die Anerkennung der Ermordeten, über die stigmatisierende Bezeichnung von NS-Opfern als „Kriminelle“, was eine jahrzehntelange Ausgrenzung zufolge hatte, aber auch über den Begriff „Widerstandskämpfer“, der vermeintlich Klarheit suggeriert, wo es darum gehen müsste, Graubereiche und Ambivalenzen auszuleuchten. Doch die aktuellen politischen Ereignisse nehmen derzeit gedanklich und in Gesprächen viel Raum ein und es erscheint mir falsch, auf diese Gleichzeitigkeit nicht einzugehen.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

AfD-Verbot endlich ernsthaft prüfen

Jens-Christian Wagner im Kölner Stadtanzeiger vom 9.11.2024

Angesichts der Wahl in den USA und des Bruchs der Ampel-Koalition in Berlin ging die neueste Nachricht zur AfD in dieser Woche etwas unter: Am Dienstag nahm die Polizei in Sachsen und in Polen auf Anweisung der Bundesanwaltschaft acht Mitglieder der mutmaßlichen Terrorgruppe „Sächsische Separatisten“ fest. Dabei wurden Waffen und Munition sichergestellt. Die Gruppe, deren Abkürzung „SS“ offenbar ganz bewusst in Analogie zu Himmlers „Schutzstaffel“ genutzt wurde, plante für einen „Tag X“, bewaffnete Milizen als „arische Schutztruppen“ loszuschicken, um systematisch Andersdenkende und Nichtdeutsche zu töten. Nach „Spiegel“-Informationen soll dabei auch das Wort „Holocaust“ gebraucht worden sein.

Zu der Terrorgruppe gehörten offenbar mindestens drei AfD-Mitglieder, darunter Kurt Hättasch, Mitglied des Stadtrates in Grimma und Schatzmeister der sächsischen Jungen Alternative, des Jugendverbandes der AfD. Er galt in der Partei als vielversprechendes Talent und soll bei seiner Festnahme mit einem Gewehr bewaffnet gewesen sein und sich verbarrikadiert haben; ein Polizist gab Schüsse ab.

Hättasch ging zuvor durch die Ideologieschule des „Instituts für Staatspolitik“ in Schnellroda in Sachsen-Anhalt. Geleitet wird dieses vor kurzem formal ausgelöste Institut von Götz Kubitschek, einem der Vordenker der Neuen Rechten und Chefredakteur der „Sezession“, einer rechtsextremen Zeitschrift, die auch in der AfD gerne gelesen wird. Neben Mitgliedern der „Identitären Bewegung“ und der Jungen Alternative ist auch der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke gerngesehener Gast in Schnellroda. Kubitschek ist so etwas wie sein ideologischer Einflüsterer. Nach eigenen Angaben saß Kubitschek am Abend der Landtagswahl in Thüringen lange mit Höcke zusammen und plante das weitere Vorgehen der AfD, die in Thüringen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wurde und bei der Wahl fast ein Drittel der Wählerstimmen erhielt.

Der Fall der „Sächsischen Separatisten“ macht erneut deutlich, welche Gefahr von der AfD ausgeht – auch wenn sich die Partei jetzt bemüht, sich von den Festgenommenen zu distanzieren. Im vergangenen Jahr hatte das BKA bereits eine andere mutmaßliche Terrorgruppe festnehmen lassen, die Reichsbürgertruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß. Mitglied der Gruppe war die frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann. Zum Umfeld der Gruppe gehörte zudem der Thüringer Aktivist Frank Haußner, ein Duzfreund von Höcke. Die Verbindungen der AfD in das „patriotische Vorfeld“, wie Höcke es nennt, sind vielfältig. Dazu zählen die Reichsbürgerszene, Putin-Anhänger, Pandemieleugner, „Freie Sachsen“ und „Freie Thüringer“ bis hin zu Neonazis aus Gruppierungen wie dem „Dritten Weg“ und anderen. Etliche von ihnen sind als gewalttätig einzustufen.

Die AfD ist tatsächlich so etwas wie der starke parlamentarische Arm dieser potenziell gewalttätigen und recht heterogenen rechtsextremen Szene. Unter dem in Schnellroda entwickelten Schlagwort vom „solidarischen Patriotismus“ verbreitet die AfD Verheißungen der Ungleichheit und redet Ideologien der Ungleichwertigkeit das Wort. Politische Gegner entmenschlicht sie, indem sie sie als „Feinde“ markiert. Ständig hetzt sie gegen die Parteiendemokratie. 2023 raunte Höcke in Weimar, in Zukunft könnte die Parteiendemokratie durch altgermanische Thing-Versammlungen abgelöst werden. Die Gleichberechtigung der Geschlechter wird von AfD-Funktionären in Frage gestellt; Menschen mit Behinderungen will sie ausgrenzen und „Produktive“ gegen „Unproduktive“ stellen. Auch in die vom Grundgesetz garantierte Freiheit von Kunst und Wissenschaft greift die AfD immer wieder ein. Zudem verbreitet sie notorisch Geschichtsrevisionismus und würdigt NS-Opfer herab.

All dies sind Positionen, die gegen das Grundgesetz verstoßen und gegen die freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerichtet sind. Und die AfD hat die Mittel und den Willen, diese Positionen auch durchzusetzen. Dabei setzen AfD-Mitglieder, wie der jüngste Fall aus Sachsen zeigt, auch auf Gewalt. Ohne Zweifel ist sie eine Partei, die die liberale, plurale Demokratie bekämpft und durch einen autoritären, völkischen Staat ersetzen möchte. Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat sind deshalb aufgefordert, ein Verbot der AfD, die offen rechtsextrem und verfassungswidrig auftritt, nun endlich ernsthaft juristisch zu prüfen.

Das Argument, man missachte mit einem Verbotsverfahren 30 Prozent der Wähler:innen im Osten, ist nicht stichhaltig. Nach dieser Argumentation hätte das Bundesverfassungsgericht 1952 auch nicht die neonazistische Sozialistische Reichspartei (SRP) verbieten dürfen, die in manchen Gegenden Niedersachsens ähnlich stark war wie die AfD heute in Thüringen. Tatsächlich beendete das SRP-Verbot eine virulente Gefahr für die junge und fragile Demokratie in Westdeutschland.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

Kampf um die Erinnerung

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom
2. November 2024

 In der vergangenen Woche schrieb Jens-Christian Wagner über Akteure der extremen Rechten in Thüringen, deren Geschichtsrevisionismus Elemente der alten DDR-Geschichtspolitik aufgreift, was in breiteren Bevölkerungskreisen auf Zustimmung stößt. Dies ist Ausdruck einer neuen Situation, die sich schon während der Corona-Pandemie und bei Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine abzeichnete: der Rechtsextremismus ist in seinen Erscheinungsformen diffuser geworden, und es entstehen neue Allianzen.

Auch in Köln war dies zuletzt wiederholt zu beobachten. So organisierte der einschlägig bekannte Markus Beisicht, einst führender Kopf der rechtsextremen „Bürgerbewegung pro NRW“, gemeinsam mit prorussischen Aktivisten mehrfach Autokorsos und Demonstrationen „für den Frieden“ und gegen eine vermeintliche „Fremdbestimmung und Besatzung“ Deutschlands durch die USA. Am 6. Mai 2023 versuchten sie, mit einer solchen Demonstration vor das EL-DE-Haus zu ziehen. Zuvor hatte das NS-DOK ihnen verwehrt, den Innenhof der Gedenkstätte für eine propagandistische Inszenierung zum Jahrestag des Kriegsendes 1945 zu nutzen. Fotos dieser Demonstration zeigen deutsche Rechtsextremisten hinter Sowjetunion-Fahnen und Porträts von Soldaten der Roten Armee – ein bizarres Bild.

Putinversteher am 6. Mai 2023 bei dem EL-DE-Haus (Foto: HB)

Ein ähnlicher Instrumentalisierungsversuch folgte im Mai 2024 an der Gedenkstätte im Gremberger Wäldchen, Schauplatz des letzten großen NS-Verbrechens in Köln. Im April 1945, während die Amerikaner die linksrheinischen Stadtviertel schon befreit hatten, ermordeten lokale NSDAP-Funktionäre, Volkssturmmänner und Hitlerjungen bei der Räumung des sogenannten Krankensammellagers im Gremberger Wäldchen zahlreiche dort ausharrende ausländische Zwangsarbeiter. Zwei führende Protagonisten der prorussischen Proteste sind zwischenzeitlich nach St. Petersburg geflohen, um einer Strafverfolgung in Deutschland zu entgehen. Dennoch muss auch zum 80. Jahrestag des Kriegsendes im Mai 2025 mit Vereinnahmungen der NS-Opfer für rechtsextreme und prorussische Propaganda gerechnet werden.

Die aus der Sowjetunion stammenden jungen Frauen und Männer, unter ihnen sehr viele aus dem Gebiet der heutigen Ukraine, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden, werden rückblickend zu russischen Opfern erklärt und für die gegenwärtige Kriegspropaganda vereinnahmt. Tatsächlich sind jedoch zahlreiche dieser heute hochbetagten Menschen und ihre Familien in der Ukraine tagtäglich von russischen Bomben und Raketen bedroht und leiden unter der schwierigen Versorgungslage. Andere sind durch die Angriffe gewaltsam ums Leben gebracht worden – wie der ehemalige Buchenwald-Häftling Boris Romantschenko.

Das NS-DOK steht wie die Gedenkstätte Buchenwald und andere Gedenkstätten seit den 1990er Jahren mit vielen ehemaligen NS-Verfolgten und ihren Familien in der Ukraine in Kontakt. Um sie zu unterstützen, entstand bereits im März 2022 das „Hilfsnetzwerk für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine“. Wenngleich die Aufmerksamkeit für den Krieg in der Ukraine in der deutschen Öffentlichkeit nachgelassen hat, wird Hilfe weiterhin dringend benötigt. Hilfe benötigen aber auch die oft selbstorganisierten Erinnerungsorte an den Holocaust, die nach dem Zerfall der Sowjetunion in der Ukraine entstanden. Dies gilt etwa für das 2009 gegründete Holocaustmuseum in Odessa, getragen von einer regionalen Vereinigung jüdischer Überlebender, deren Vorsitzenden Roman Shvartsman wir kürzlich im NS-DOK kennenlernen durften. Bei der Kölner Museumsnacht am heutigen Samstag haben Sie im NS-DOK die Möglichkeit, sich über die Arbeit des Hilfsnetzwerks und das Museum in Odessa zu informieren und sie zu unterstützen.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

Wie kann es sein, dass sich Neonazis auf Kommunisten berufen?

Jens-Christian Wagner im Kölner Stadtanzeiger vom 26.10.2024

In Social Media verbreitet sich derzeit ein Video viral, das in dieser Woche beim wöchentlichen „Montagsspaziergang“ in Gera aufgenommen wurde. Zu sehen ist ein junger offenkundiger Neonazi, der die Menge zum gewaltsamen Durchbrechen von Polizeiketten aufruft und sich dabei auf Ernst Thälmann beruft, den im KZ Buchenwald ermordeten Vorsitzenden der KPD.

Wie kann es sein, dass sich ein Neonazi auf einen Kommunisten beruft? Wie kann es sein, dass ausgerechnet im Osten, in der die DDR den antifaschistischen Widerstandskampf propagierte, eine rechtsextreme Partei wie die AfD, die die NS-Verbrechen notorisch verharmlost und die Arbeit der Gedenkstätten als „Schuldkult“ diskreditiert, einen derartigen Wählerzuspruch erhält?

Um diese Frage zu beantworten, muss man sich in die unappetitlichen Niederungen der AfD-Geschichtspolitik in Thüringen begeben: „Gedanken zum Jahrestag der Luftangriffe“, so überschrieb der AfD-Landtagsabgeordnete Jörg Prophet einen Text, den er am 2. April 2020 auf der Website der AfD Nordhausen veröffentlichte. Darin warf er den amerikanischen Soldaten, die das KZ Mittelbau-Dora am 11. April 1945 befreit und mehrere Hundert KZ-Häftlinge gerettet hatten, „Morallosigkeit“ vor. Das erinnert an die SED-Geschichtspolitik. 1964, Prophet war da gerade zwei Jahre alt, präsentierte die Stadt Nordhausen in einer Broschüre über das KZ Mittelbau-Dora ein Foto von Häftlingsleichen in der Nordhäuser Boelcke-Kaserne. In der Bildunterschrift hieß es: „Was die SS nicht mehr vollbrachte, vernichteten die USA-Luftpiraten.“

Den Begriff „Luftpiraten“ hatte schon die nationalsozialistische Propaganda mit Bezug auf die westalliierten Luftangriffe verwendet. Im Fall des Fotos aus der Boelcke-Kaserne bezog sich die Bildunterschrift von 1964 auf einen britischen (nicht: amerikanischen) Luftangriff auf Nordhausen Anfang April 1945, bei dem auch ein KZ-Außenlager in der Boelcke-Kaserne getroffen worden war. Tatsächlich waren die meisten Häftlinge aber nicht beim Luftangriff getötet worden, sondern an den Folgen von Hunger, Zwangsarbeit und Krankheiten gestorben. Sie waren Opfer der SS, nicht der Amerikaner oder der Briten.

Von der antiamerikanischen Bildunterschrift der DDR-Broschüre von 1964 zu Prophets Behauptung von 2020, die US-Befreier des KZ Mittelbau-Dora seien „morallos“ gewesen, zieht sich ein roter Faden. Sein Geschichtsrevisionismus ist ein diffuses Amalgam aus klassisch westdeutschen, rechtsextremen Geschichtsbildern und Nachwirkungen der SED-Geschichtspolitik. Diese präsentierte ein entlastendes Geschichtsbild, wonach die NS-Verbrechen von einer Clique von Monopolkapitalisten und NS-Funktionären begangen worden seien, die nach 1945 alle in den Westen gegangen waren. „Die Blutspur führt nach Bonn“, hieß die Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald in den 1960er Jahren. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung für die NS-Verbrechen blieb damit in der DDR weitgehend aus.

Deutlich fand das SED-Geschichtsbild auch in der Popularisierung des „Schwurs von Buchenwald“ seinen Ausdruck, den die KZ-Überlebenden am 19. April 1945, nur wenige Tage nach ihrer Befreiung, bei einer Kundgebung auf dem Appellplatz abgegeben hatten: „Die endgültige Zerschmetterung des Nazismus ist unsere Losung“, hatten die Befreiten bekundet. Kommunistische ehemalige Häftlinge änderten die Losung wenige Tage später. Sie hieß nun: „Die endgültige Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung.“ Die Wurzeln, das waren nach SED-Lesart der Kapitalismus und sein politisches System. Damit hatte die DDR-Geschichtspolitik eine stark antiwestliche, antiliberale und antiamerikanische sowie zeitweise auch eine antizionistische (und damit auch tendenziell antisemitische) Aufladung. Damit ist dieses Narrativ auch für heutige Rechtsextreme, die den demokratischen Rechtsstaat westlicher Prägung überwinden wollen, anschlussfähig. Das erklärt, warum der westdeutsche Rechtsextremist Jürgen Elsässer mit seiner „Ami – go home“-Kampagne im Osten recht erfolgreich ist. Es ist also kein Zufall, dass die Weimarer „Montagsspaziergänger“, die eine diffuse rechtsextreme Mischung aus Pandemieleugnern, „Reichsbürgern“, AfD-Funktionären, Putin-Anhängern und „Freien Thüringern“ bilden und sich selbst als „Weimarer Revolution“ bezeichnen, als Logo die zum Schwur erhobene Hand einer Bronzefigur in der berühmten Plastik von Fritz Cremer verwenden, die vor dem 1958 eingeweihten Glockenturm des monumentalen Buchenwald-Mahnmals steht. Die Rechtsextremen postulieren damit, das Vermächtnis des antifaschistischen Widerstandskampfes zu verwirklichen.

„Montagsspaziergang“ in Weimar 15. Januar 2024 (©Foto: Jens-Christian Wagner)

Das ist natürlich vollkommen widersinnig. In ihrer eigenen verqueren Logik bekommt es aber Sinn, brandmarken diese Leute doch – wie die DDR-Propaganda – den liberalen Rechtsstaat westlicher Prägung als faschistisch – so wie es auch AfD-Funktionäre und andere Rechtsextreme machen, wenn sie behaupten, im „Widerstand“ gegen das als faschistisch bezeichnete Berliner „Ampel-Regime“ zu stehen. Der Begriff des „Faschismus“ wird damit jeglichen Inhalts beraubt und zum bloßen Kampfbegriff – und zugleich werden der tatsächliche Antifaschismus (also der Einsatz gegen rechtsextremes Gedankengut) und die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus diskreditiert – von der Instrumentalisierung der NS-Opfer einmal ganz abgesehen.

Die DDR wird von der AfD und anderen Rechtsextremen überwiegend abgelehnt, auch wenn sie emotionale nostalgische DDR-Bezüge durchaus nutzen, wie etwa Björn Höcke, der im Thüringer Landtagswahlkampf auf einer Simson, dem DDR-„Kult“-Moped, durchs Land knatterte. Die Geschichtsbilder der SED sind für diese Leute, da sie antiliberal aufgeladen sind, aber anschlussfähig und bilden zusammen mit klassischen westdeutschen geschichtsrevisionistischen Mythen ein aggressiv-ideologisches Gemisch, das den liberalen Rechtsstaat und die Erinnerungskultur zu delegitimieren versucht. Da beruft man sich als Rechtsextremer dann auch gerne mal auf den Kommunisten „Teddy“ Thälmann, um den die SED einen antifaschistischen Märtyrer-Kult inszenierte und nachdem unzählige Schulen wie auch die DDR-Massenorganisatin für Kinder benannt waren.

Für den Erfolg der Rechtsextremen in Ostdeutschland sind die Nachwirkungen der SED-Geschichtspolitik wie auch der autoritären Sozialisation in der DDR selbstverständlich bei weitem nicht allein verantwortlich (eine große Rolle spielt etwa bei vielen Menschen auch das Gefühl der Demütigung durch Westdeutsche während der Transformation nach 1989/90). Zudem ist der Aufstieg der AfD kein reines Ostphänomen, sondern ein bundesweites Problem. Trotzdem lässt es sich nicht leugnen, dass die AfD im Osten größeren Zuspruch hat als im Westen. Und um dafür Erklärungen zu finden, ist die inhaltliche Auseinandersetzung mit der SED-Geschichtspolitik unerlässlich – nicht nur in den Gedenkstätten, sondern auch in den Schulen wie überhaupt in der gesamten Gesellschaft.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

 

Was Köln und Buchenwald verbindet

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom 21. Oktober 2024

Während das Erstarken der extremen Rechten und die massive Zunahme des Antisemitismus die NS-Gedenkstätten weiter beschäftigen, rücken die Vorbereitung des Gedenkens zum 80. Jahrestag der Befreiung von der NS-Herrschaft und die Erinnerung an die Verbrechen der Kriegsendphase in den Fokus.

Die Region des heutigen Regierungsbezirks Köln, welche die Gestapo aus dem EL-DE-Haus kontrollierte, befand sich schon ab Herbst 1944 in einer Ausnahmesituation, da allenthalben mit dem baldigen Kriegsende gerechnet wurde. Bereits am 21. Oktober 1944, vor genau 80 Jahren, wurde Aachen als erste deutsche Großstadt von der US-Armee erobert. Es vergingen jedoch noch fünf Monate, ehe Anfang März 1945 das linksrheinische Köln befreit werden konnte. Im Rechtsrheinischen dauerte die NS-Herrschaft sogar bis Mitte April 1945 an.

In diesen letzten Kriegsmonaten, als Köln unter anhaltenden Bombenangriffen in Trümmern versank, kam es zu einer massiven Gewalteskalation. Während die meisten Kölner*innen die Stadt verlassen hatten, gingen Sonderkommandos der Gestapo mit größter Brutalität gegen sogenannte Banden vor, die sich aus ausländischen Zwangsarbeiter*innen, Deserteuren und geflohenen Häftlingen gebildet hatten. Die Gestapo unterstellte ihnen Umsturzabsichten. Doch den meisten dieser Menschen, die sich teils bewaffneten und mit Diebstählen versorgten, ging es wohl eher darum, das Kriegsende lebend zu erreichen. Auch viele nicht von Verfolgung betroffene Kölner*innen nutzten das Chaos in der kriegszerstörten Stadt für Diebstähle, die drakonisch bestraft wurden.

Den Auftakt zur Eskalation der Gestapogewalt am Ende des Krieges markierte eine öffentliche Hinrichtung von elf ausländischen Zwangsarbeitern am Bahnhof Ehrenfeld am 25. Oktober 1944. Überlieferte Fotos zeigen, wie eine große Menschenmenge der Tat auf der Hüttenstraße am helllichten Tag zusah. Der Historiker Markus Günnewig, der die Endphaseverbrechen erforscht hat, wird hierüber anlässlich des 80. Jahrestags am nächsten Donnerstag, den 24. Oktober, im NS-DOK referieren.

Die Hinrichtung in Ehrenfeld markierte auch eine Veränderung in der Beziehung zwischen Köln und dem Konzentrationslager Buchenwald. Das 1937 errichtete KZ war unter anderem für die Aufnahme von Häftlingen zuständig, die regionale Gestapo- und Kripostellen aus Westdeutschland, so auch aus Köln, in sogenannte Schutzhaft oder Vorbeugungshaft nahmen. Bis Herbst 1944 bildeten osteuropäische Zwangsarbeiter*innen unter ihnen eine der größten Gruppen. Sie waren zur Arbeit nach Köln verschleppt worden und wurden für tatsächliche oder vermeintliche Verstöße gegen die für sie geltenden rassistischen Sonderregelungen vielfach nach Buchenwald überstellt. Nun hingegen erhielt die Kölner Gestapo die Ermächtigung, diese Menschen selbst vor Ort hinzurichten. Bis zur Befreiung im März 1945 wurden so über 400 Gestapo-Häftlinge im Hof des EL-DE-Hauses ermordet.

Andere, die in Köln ins Visier der Gestapo gerieten, wurden in der Kriegsendphase weiterhin nach Buchenwald verschleppt. Darunter die Opfer der „Aktion Gewitter“, eine der letzten Verhaftungsaktionen von Regimegegner*innen: Ende August 1944 hatte die Kölner Gestapo zahlreiche ehemalige Funktionäre von SPD, KPD und Zentrum verhaftet, um nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler potenzielle Träger einer neuen Opposition auszuschalten. Unter den Verhafteten, die im Messelager Deutz eingesperrt wurden, befand sich auch Konrad Adenauer. Während dieser nach einigen Wochen entlassen wurde, transportierte die Gestapo andere Betroffene, darunter den ehemaligen christlichen Gewerkschaftsfunktionär und Zentrumspolitiker Otto Gerig, Mitte September 1944 nach Buchenwald. Die katastrophalen Bedingungen im völlig überfüllten Konzentrationslager überlebte Gerig nur zwei Wochen. Am 5. Oktober 1944 schrieb die Lagerverwaltung seiner in Köln lebenden Frau Hanna, dass er zwei Tage zuvor gestorben war.

Köln und Buchenwald waren im Nationalsozialismus durch viele solcher Geschichten verbunden. Eine zweite wichtige Verbindung bestand umgekehrt in Transporten, mit denen Hunderte Häftlinge aus Buchenwald ab 1942 zur Zwangsarbeit in das Messelager und weitere KZ-Außenlager auf Kölner Stadtgebiet gelangten. Aufgrund dieser Verbindungen ist die Zukunft der Gedenkstätte Buchenwald in dieser unsicheren politischen Zeit in Thüringen ein Thema, das auch uns direkt angeht.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

Besorgniserregende Gemeinsamkeiten

Jens-Christian Wagner im Kölner Stadtanzeiger vom 12.10.2024

Jens-Christian Wagner bei einem Vortrag im NS-DOK (Foto: HB)

Fast sechs Wochen nach der Landtagswahl gibt es in Thüringen noch immer keine neue Regierung, ja noch nicht einmal Koalitionsgespräche. Es wird noch immer zwischen CDU, BSW und SPD sondiert – „mit guter Laune und in entspannter Atmosphäre“, wie die Thüringer CDU am vergangenen Dienstag via X, vormals Twitter, wissen ließ. Für gute Laune besteht indessen kaum ein Grund. Sollte es tatsächlich zur „Brombeer-Koalition“ kommen, hätte diese im Landtag keine eigene Mehrheit und wäre auf die Stimmen der Linken oder Abweichler aus der AfD angewiesen. Und fragil wäre das Dreierbündnis noch aus einem weiteren Grund: Das BSW ist eine Mischung aus antiliberalem und antiwestlichem Ressentiment, Putin-Propaganda, Nationalismus, Xenophobie, autoritärer Kaderpartei und DDR-Nostalgie. In ihm steckt zehnmal mehr SED als in der Linken, mit der die CDU eine Zusammenarbeit ausschließt.

Aber nicht nur inhaltlich wäre der Bogen bis zum Zerreißen gespannt: Die Thüringer BSW-Führung ist offenbar vollkommen abhängig von Parteichefin Wagenknecht. Die ließ vor der Aufnahme der Sondierungsgespräche wissen, dass sie persönlich in einem Gespräch mit CDU-Chef Mario Voigt ihre Bedingungen „klären“ wolle, bevor die Thüringer Parteivorsitzende Katja Wolf mit ihm über eine Koalition sprechen darf – ein recht eigenwilliges Demokratieverständnis, auch der eigen Partei gegenüber.

Welche Positionen Katja Wolf vertritt, ist derweil unklar. Zwei Wochen vor der Wahl kündigte sie im MDR an, Anträgen der AfD im Landtag gegebenenfalls zustimmen zu wollen. Es dürfe keine „ideologischen Scheuklappen“ geben. Das lässt Schlimmes befürchten, zumal es inhaltliche Überschneidungen zwischen den beiden Parteien gibt, nicht nur hinsichtlich der Nähe zu Russlands Diktator Putin und beim Antiamerikanismus, sondern auch in der Migrationspolitik und bei der populistischen Hetze gegen die links-grüne „Wokeness“: Die Wahlplakate von AfD und BSW ließen sich kaum auseinanderhalten: „Rechnen statt Gendern“, forderte der BSW, und bei der AfD hieß es: „Deutsch statt Gendern“.

Auch beim Thema Corona-Schutzmaßnahmen gibt es Überschneidungen, beide Parteien fordern einen Untersuchungsausschuss und bedienen damit Narrative der verschwörungsideologischen Pandemieleugner-Szene. Noch vor Aufnahme der Koalitionsgespräche hat das BSW einen Antrag auf Einrichtung eines Corona-Untersuchungsausschusses in den Landtag eingebracht. Damit das nötige Fünftel der Stimmen für den Antrag zusammenkommt, könnte das BSW auf Stimmen aus der AfD angewiesen sein.

Doch auch wenn das BSW Abstand zur AfD halten sollte, bleibt das Problem bestehen, dass Wagenknecht der Koalition ihre antiwestliche und antiliberale Agenda aufnötigt und damit Positionen regierungsamtlich werden, die auch in der AfD vertreten werden. Wie nah Wagenknecht der AfD inhaltlich in vielen Belangen steht, hat sie beim Gespräch mit deren Chefin Alice Weidel am vergangenen Mittwoch gezeigt. Die politische Kultur in Thüringen könnte sich damit bei einer Regierungsbeteiligung des BSW von der liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts weiter entfremden und der AfD damit den Acker bestellen.

Was bedeutet all das für die Gedenkstätten? Eines unterscheidet das BSW von der AfD diametral: Es verbreitet keinen Geschichtsrevisionismus, zumindest nicht zum Thema der NS-Verbrechen (wie es sich mit Blick auf das SED-Unrecht verhält, ist nicht ganz klar). Und im Gegensatz zur AfD bekämpft es die Arbeit der Gedenkstätten nicht; im Gegenteil: Das BSW-Parteiprogramm fordert ausdrücklich die Unterstützung der Gedenkstättenarbeit. Gleiches gilt für die CDU, auch wenn in deren Wahlprogramm deutlich mehr zur SED-Diktatur und zu den Heimatvertriebenen steht als zu den NS-Verbrechen, und für die SPD.

Auf den ersten Blick dürfte sich eine Brombeer-Koalition, was die Unterstützung durch die Landesregierung anbelangt, also eher nicht negativ auf die Arbeit der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora auswirken. Trotzdem ist es auch hier das BSW, das Zweifel aufkommen lässt: Mit ihrer Putin-Nähe und antiisraelischen Positionen könnte die Wagenknecht-Partei in Konflikt nicht nur mit den Gedenkstätten, sondern auch mit den Überlebendenverbänden geraten.

Im Internationalen Komitee Buchenwald-Dora etwa, in dem sich KZ-Überlebende und ihre Angehörigen aus vielen Ländern zusammengeschlossen haben, hat man für Putin- und Hamas-Apologeten wenig Verständnis: Der Präsident des Komitees und Buchenwald-Überlebende Naftali Fürst verlor beim Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 eine Angehörige, und der ukrainische Vizepräsident Boris Romantschenko, der Buchenwald, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen überlebt hatte, starb 2022 beim russischen Beschuss seiner Heimatstadt Charkiw.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

Die Erinnerungskultur in Deutschland ist bedroht

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom 5. Oktober 2024

Henning Borggräfe bei einer Ansprache im NS-DOK (Foto HB)

Ende letzter Woche war ich in Weimar, um als Delegierter der NS-Gedenkstätten in NRW an der jährlichen Gedenkstättenkonferenz teilzunehmen. Auf Einladung Jens-Christian Wagners und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, ging es dort um den „Kulturkampf von Rechts: Gefahren und Gegenstrategien.“

Während sich zeitgleich wenige Kilometer entfernt in Erfurt bei der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags die Auswirkungen des AfD-Wahlerfolgs auf das Funktionieren des Parlaments abzeichneten, zeigten Berichte und Lageeinschätzungen von Kolleginnen und Kollegen aus Thüringen, aber auch aus Sachsen, wie sehr die politische Stimmung gekippt, wie sehr die demokratische Zivilgesellschaft und mit ihr die Erinnerungskultur bedroht ist. Neben der Kernaufgabe der Vermittlung eines kritischen Geschichtsbewusstseins wird es für die NS-Gedenkstätten so fast zwangsläufig zu einer weiteren Aufgabe, sich vor Ort auch politisch einzumischen.

Die Gedenkstättenkonferenz ist eines von jährlich zwei großen Treffen für Vertreter*innen der etwa 300 Gedenkstätten, Dokumentationszentren und Erinnerungsorte zur Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland. Das zweite, das bundesweite Gedenkstättenseminar, welches einen Fokus auf die Bildungsarbeit legt, fand bereits im Juni in Berlin statt. Es stand ganz unter dem Eindruck der anderen politischen Herausforderung für unsere Orte in dieser Zeit: der starken Zunahme des Antisemitismus in Deutschland infolge des mörderischen Terrorangriffs auf Israel am 7. Oktober 2023.

Neben den unsäglichen Anfeindungen und Übergriffen gegenüber Jüdinnen und Juden geht sie mit einer Vielzahl antisemitischer Attacken auf die Erinnerungskultur einher. Vielerorts wurden im letzten Jahr Sachbeschädigungen, Schmierereien und Beleidigungen verzeichnet. Auch ein Jahr danach sind die Gedenkstätten, gerade in NRW, intensiv damit beschäftigt, antisemitischen Äußerungen und besonders dem teils ungehemmten Hass auf Israel in der Bildungsarbeit zu begegnen, zu informieren und aufzuklären.

Mindestens ebenso wichtig ist die Solidarität mit den jüdischen Gemeinden und den hier lebenden Jüdinnen und Juden. Eine Aufgabe der Fachstelle gegen Antisemitismus im NS-Dok ist es, Betroffene zu unterstützen. Zum Jahrestag des Terrorangriffs auf Israel veröffentlichen wir eine neue Broschüre, die jüdischen Eltern dabei helfen soll, mit ihren Kindern über Antisemitismus zu sprechen. Es ist ein trauriges Zeugnis für den Zustand dieser Gesellschaft, dass wir dieses Werk überhaupt herausgeben müssen.

Der Umgang mit der Gefahr des Antisemitismus darf kein Thema sein, dass wir jüdischen Eltern und ihren Kindern überlassen. Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine Aufgabe, die alle angeht. Judenhass darf keinen Platz in dieser Gesellschaft haben. Wir müssen alles dafür tun, unsere Kinder in einem Umfeld des Respekts, der Sicherheit und der Offenheit großzuziehen.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

Die AfD darf nicht normalisiert werden

Jens-Christian Wagner im Kölner Stadtanzeiger vom 28.9.2024

Nach der Landtagswahl in Thüringen ist die Lage desolat. Die geschichts-revisionistische und vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestufte AfD ist mit fast 33 Prozent der abgegebenen Stimmen stärkste Fraktion im Landtag und hat eine Sperrminorität. Allein das wird ihr helfen, die politische Agenda in Thüringen mitzubestimmen. Hinzu kommt, dass jede mögliche Regierungsvariante ein Schaden für die Demokratie wäre: Eine demokratische Mehrheitsregierung kann nur zustande kommen, wenn sich alle anderen Parteien auf eine Koalition einigen, was angesichts des Unvereinbarkeitsbeschlusses der CDU gegenüber der Linken vermutlich nicht möglich sein wird. Es bliebe als Möglichkeit eine Minderheits- oder „Patt“-Regierung aus CDU, BSW und SPD, die von der Linken formal oder informell toleriert wird.

In jedem Fall hätte das BSW, eine nationalpopulistische, Putin-treue Kaderpartei, die antiwestliche und antiliberale Ressentiments bewirtschaftet, ein großes Erpressungspotential gegenüber der CDU. Der AfD wiederum würde eine Dreier- oder Viererkoalition nutzen, um ihr Opfernarrativ zu verbreiten, wonach sie von allen ausgegrenzt werde und im Land so etwas wie eine Nationale Front 2.0 herrsche, also ein diktatorisches Parteienbündnis wie zu Zeiten der DDR. Dieses Narrativ wird der AfD vermutlich zusätzliche Wähler in die Arme treiben.

Die zweite Regierungsvariante – eine Koalition von CDU und AfD oder BSW und AfD oder eine CDU-Regierung unter Tolerierung der AfD – wäre ein noch größerer Schaden für die Demokratie. Das würde rechtsextreme Narrative normalisieren und eine Politik zu Lasten aller bedeuten, die nicht in das völkische Weltbild der AfD passen. Die AfD käme ihrem Ziel, in Thüringen kulturelle Hegemonie zu erlangen, einen großen Schritt weiter.

Für die Demokratie in Thüringen herrscht mithin eine Loose-Loose-Situation. Was also tun? Eine AfD-getragene oder tolerierte Regierung wäre der Worst Case und muss unbedingt verhindert werden – gerade auch aus der Perspektive der Gedenkstättenarbeit. Eine geschichtsrevisionistische Partei, aus deren Reihen notorisch der Holocaust verharmlost oder sogar positive NS-Bezüge gesetzt werden, wäre eine Katastrophe für die Gedenkstättenarbeit. Nicht umsonst beobachten KZ-Überlebende und ihre Angehörigen die Lage in Thüringen mit banger Spannung.

Es bleibt also nur das kleinere Übel: eine Regierungsbildung unter Beteiligung mindestens von CDU, BSW und SPD unter Tolerierung der Linken. Eine solche Koalition zu schmieden ist eine Riesenaufgabe, um die ich den Thüringer CDU-Vorsitzenden Mario Voigt nicht beneide, zumal er ja auch noch mit mehr oder weniger kontraproduktiven „Ratschlägen“ aus Berlin und Saarbrücken konfrontiert ist.

Und dann geht es auch noch – völlig unabhängig von der Zusammensetzung der Regierung – um die Zusammenarbeit der Parteien im Landtag. Was es ganz praktisch bedeuten könnte, wenn der Landtagspräsident von der AfD gestellt wird, hat das unwürdige und undemokratische Schauspiel am Donnerstag gezeigt, als der Landtag eigentlich zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentreten sollte und der von der AfD gestellte Alterspräsident demokratische Mehrheitsentscheidungen mutmaßlich rechtswidrig verhindert hat, indem er Geschäftsordnungsanträge der demokratischen Fraktionen systematisch ignorierte und damit die Konstituierung des Landtags sabotierte.

Nicht nur aus diesem Grund müssen die demokratischen Fraktionen alles daran setzen, einen Landtagspräsidenten oder eine Präsidentin aus den Reihen der AfD zu verhindern. Immerhin ist der Landtagspräsident protokollarisch der höchste Repräsentant des Freistaates Thüringen. Wenn eine solche Position von einem oder einer Rechtsextremen besetzt würde, wäre das ein erheblicher Schaden für das Land.

Auch ein Vizepräsident der AfD würde die Demokratie beschädigen, es ist aber fraglich, ob sich das durchhalten lässt. Das gilt auch für die Ausschuss-vorsitzenden. Hier sollte aus Sicht der Gedenkstätten zumindest sichergestellt werden, dass die AfD nicht den Vorsitz im Kulturausschuss und im Bildungsausschuss erhält. Im Übrigen sollten sich alle demokratischen Parteien einig sein, dass es im Landtag keinerlei Zusammenarbeit mit der AfD geben darf. Es darf nicht sein, dass eine undemokratische Minderheit eine demokratische Mehrheit in Geiselhaft nimmt, wie es am Donnerstag im Landtag geschehen ist.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

Die mörderische Ideologie des Antisemitismus

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom 11.9.2024

Die Wahlen in Thüringen und Sachsen liegen jetzt eineinhalb Wochen zurück, aber sie beschäftigen mich und das Team des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln immer noch stark. Wie Jens-Christian Wagner, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, vergangene Woche schrieb, ist der Wahlerfolg der AfD erschütternd und deprimierend. Herr Wagner hat sich vor den Wahlen mit beeindruckender Klarheit und Beharrlichkeit für die Demokratie und gegen Geschichtsrevisionismus eingesetzt – und wird nun massiv bedroht.

Aus dem mehr als vier Fahrtstunden von Buchenwald entfernten Köln, mag manchen die dortige Situation weit weg vorkommen – und tatsächlich bin ich froh, dass wir hier in anderen politischen Verhältnissen leben. Doch auch in Köln erhielt die AfD bei den Europawahlen im Juni erstmals in einem Stadtteil die meisten Stimmen. Und wenngleich nicht so oft wie in Buchenwald, so kommt es auch im NS-DOK immer wieder zu extrem rechten oder antisemitischen Vorfällen. Erst kürzlich hinterließ uns ein Besucher der Dauerausstellung wieder einmal ein akkurat gemaltes Hakenkreuz.

Das NS-DOK und die Gedenkstätte Buchenwald befinden sich beide an historischen Orten. Hier die ehemalige Gestapozentrale der westdeutschen Metropole, dort eines der wichtigsten Konzentrationslager des NS-Terrorsystems. Doch zugleich unterscheiden sich die Orte, historisch wie in ihren Aufgaben. Buchenwald ist heute nicht nur ein Ort der Bildung und des Gedenkens, sondern auch ein Friedhof. Die baulichen Relikte bezeugen die Massenverbrechen. Ihr Erhalt ist eine wichtige, oft wenig beachtete Aufgabe, die viel Geld benötigt. Das NS-DOK liegt als kommunale Einrichtung mitten in der Großstadt und widmet sich mit der Info- und Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus, der Mobilen Beratung und der Fachstelle gegen Antisemitismus, neben der Geschichte stärker auch gegenwartsbezogenen Fragen.

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle darüber schreiben, was Köln und das KZ Buchenwald historisch verband – anhand von Beispielen, die ab morgen in unserer neuen Ausstellung über „Kritik im Nationalsozialismus“ im EL-DE-Haus präsentiert werden. Doch die ersten Sätze der Kolumne hatte ich vergangenen Donnerstag gerade in den Computer getippt, als uns Meldungen über Schüsse vor dem NS-Dokumentationszentrum München und dem benachbarten israelischen Generalkonsulat erreichten. Kurz darauf erschien die Polizei im EL-DE-Haus, um uns zu informieren, dass sie die Bewachung erhöht.

Wie wir heute wissen, hatte der Täter, wie bei dem furchtbaren Anschlag in Solingen, einen islamistischen Hintergrund. Das Münchner NS-Dokumentationszentrum wurde von zwei Schüssen getroffen. Doch das eigentliche Ziel des Angriffs war wohl die Repräsentanz des Staates Israel, wie sich der Judenhass nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder gegen Israel richtet. Die sozialen Medien waren sofort voller Häme gegen die vielfältige Gesellschaft, voller rassistischer Hetze und Rufen nach massenhafter „Remigration“, dieser verharmlosenden Parole, die nicht zuletzt die Wahlsieger von Thüringen in den letzten Monaten popularisiert haben.

Es steht zu befürchten, dass die Taten von Solingen und München der extremen Rechten weiter Auftrieb geben werden. Dabei sind beide, Islamismus und Rechtsextremismus, unbestreitbar zentrale Bedrohungen für eine demokratisch verfasste Gesellschaft, die auf Menschenrechten und Gleichheitsvorstellungen basiert. Beide haben trotz vieler Unterschiede zudem Gemeinsamkeiten – nicht zuletzt die mörderische Ideologie des Antisemitismus.

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

 

Noch ist die AfD keine NSDAP 2.0

Historiker Jens-Christian Wagner über Lehren aus dem Wahlausgang in Thüringen

Drei Tage nach der Landtagswahl in Thüringen hat sich an meinem Entsetzen von Sonntagabend nicht viel geändert: Für jemanden, der sich beruflich der kritischen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen widmet, ist es erschütternd und deprimierend, wenn erstmals seit 1945 Rechtsextreme in einem Bundesland mit knapp einem Drittel der Stimmen stärkste Partei werden. Und in Sachsen sieht es kaum besser aus: Auch dort hat die AfD gut 30 Prozent der Wählerstimmen geholt.

Für die Gedenkstätten ist der Wahlerfolg der AfD bitter. Notorisch verharmlosen Politiker der AfD die NS-Verbrechen und diskreditieren die Erinnerungskultur als „Schuldkult“ – ein Begriff, den der ehemalige SS-Unterscharführer und spätere rechtsextreme „Republikaner“-Chef Franz Schönhuber Anfang der 1980er Jahre in die Welt gesetzt hat und der später von der AfD aufgegriffen wurde. Dahinter steht die geschichtsrevisionistische Legende, die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und die Würdigung ihrer Opfer dienten „fremden Mächten“, vorzugsweise den Juden, dazu, Deutschland kleinzuhalten bzw. seine „Selbstfindung“ zu verhindern, wie der Thüringer AfD-Chef Höcke kürzlich auf X, vormals Twitter, schrieb. Höcke ist es auch, der ständig von „raumfremden Mächten“ raunt, die aus Deutschland vertrieben werden müssten. Raumfremde Mächte – das ist ein Begriff, den der NS-Staatsrechtler Carl Schmitt 1941 eingeführt hat, mitten im Zweiten Weltkrieg.

Dass die AfD ausgerechnet in Thüringen erstmals stärkste Kraft wird, ist bitter und weckt historische Assoziationen, blicken wir historisch doch auf drei Thüringer Sündenfälle auf dem Weg zum NS-Staat: 1924 die erste Tolerierung einer bürgerlichen Minderheitsregierung durch Nationalsozialisten im Deutschen Reich, 1930 die erste Koalitionsregierung mit Nationalsozialisten und 1932 die erste NSDAP-geführte Landesregierung. Thüringen, von den Nazis als „Schutz- und Trutzgau“ bezeichnet, war für die NSDAP ein Experimentierfeld und Sprungbrett auf dem Weg zur Macht in ganz Deutschland.

Nun ist die AfD trotz aller ideologischen Ähnlichkeiten keine NSDAP 2.0, zumindest noch nicht. 1924 ist nicht gleich 1933. Die Unterschiede liegen aber weniger in der Programmatik der beiden Parteien als im historischen Kontext. Die Weimarer Republik stand nicht nur unter Beschuss durch die NSDAP, sondern auch von links, nämlich durch die stalinistische KPD. Diese Gefahr gibt es heute nicht. Unterschied Nr. 2: Weimar war eine Republik ohne Republikaner. Heute stehen die meisten Menschen in Deutschland und auch in Thüringen fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Vergessen wir nicht: 70 Prozent der Thüringer haben die AfD nicht gewählt. Der dritte Unterschied: Anfang der 1930er Jahre herrschte in Deutschland infolge der Weltwirtschaftskrise blanke Not. Heute geht es den meisten Deutschen so gut wie noch nie.

Der vierte Unterschied hat mit historischen Kenntnissen zu tun: Anders als die Zeitgenossen des Jahres 1933 wissen wir, wie das damals ausgegangen ist. Und das verpflichtet uns, wachsam zu sein, und die demokratischen Parteien im Thüringer Landtages mahnt dieses Wissen, jegliche Zusammenarbeit mit den Rechtsextremen zu unterlassen.

KStA 4. September 2024

Veröffentlichung mit Dank an den Kölner Stadtanzeiger, der die Kolumne veröffentlicht.

 

 

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