Angefeindetes Gedenken

Im Kölner Stadtanzeiger vom 28. Dezember 2024 beschließ Anne Burgmer die Kolumne »Brandbriefe« mit Dank an Jens-Christian Wagner und Henning Borggräfe

Wagner beim Vortrag im NS-DOK (Foto: HB)

Ende des vergangenen Jahres las ich im „Spiegel“ einen Bericht über die Gedenkstätte Buchenwald. Das dortige Konzentrationslager war während der NS-Zeit eines der größten in Deutschland. Der Historiker Jens-Christian Wagner leitet die Gedenkstätte und sieht sich wegen seines unermüdlichen Engagements immer wieder Anfeindungen ausgesetzt. Rechtsradikale bedrohen ihn und verhöhnen die Opfer, indem sie etwa in der Gedenkstätte Hakenkreuze an Wände schmieren. Mich hat sein Bericht damals so bewegt, dass ich Jens-Christian Wagner eine Mail schrieb, um ihm für seine Arbeit zu danken.

Als Claudia Wörmann-Adam vom Verein EL-DE-Haus in diesem Jahr auf die stellvertretende Chefredakteurin Sarah Brasack und mich zukam und ein gemeinsames Projekt vorschlug, war ich daher direkt sehr angetan. Die Kampagne „Demokratie ist alternativlos“ des Fördervereins verbindet das NS-Dokumentationszentrum Köln und die Gedenkstätte Buchenwald und will durch Spenden unter anderem Workshops finanzieren.

Henning Borggräfe (Foto: HB)

In der Kolumnenreihe „Brandbriefe – Zwischen Köln und Buchenwald“ haben Jens-Christian Wagner und Henning Borggräfe, Direktor des NS-Dokumentationszentrums Köln, wöchentlich seit Ende August bis Weihnachten über ihre Arbeit berichtet. Mir haben die Beiträge viele neue Perspektiven und Zusammenhänge aufgezeigt und verdeutlicht, dass wir uns mit der Frage, wie wir an die Verbrechen der NS-Zeit erinnern wollen, immer wieder aufs Neue auseinandersetzen müssen, damit die Aussage „Nie wieder ist jetzt“ nicht nur ein Lippenbekenntnis ist. Wir müssen uns aktiv gegen Antisemitismus und Rassismus zur Wehr setzen und für den Erhalt unserer Demokratie kämpfen, denn die Kräfte, die sie bedrohen, sind stärker geworden. Ich möchte an dieser Stelle Jens-Christian Wagner und Henning Borggräfe noch einmal herzlich für ihre Beiträge und ihr Engagement danken.


 

Der Versuch, Nazis reinzuwaschen

Von Jens-Christian Wagner im Kölner Stadtanzeiger vom 21. Dezember 2024

Auf den Nationalsozialismus bezogener Geschichtsrevisionismus ist kein neues Phänomen. Schon vor 1945 verbreiteten die Nationalsozialisten schuldumkehrende Legenden, sprachen von jüdischen Vernichtungsplänen gegenüber Deutschland oder davon, dass für den Zweiten Weltkrieg wahlweise die Juden, die Briten, die Polen oder die Sowjetunion verantwortlich seien. Nach dem Krieg wärmten ehemalige Nazis und neue Rechtsextreme diese Legenden auf.

Ziel solcher Legenden war und ist es, die deutsche Geschichte in eine Erfolgsgeschichte umzudeuten und die Verbrechen des Nationalsozialismus (wie auch des deutschen Kolonialismus) kleinzureden, zu verharmlosen und zu relativieren oder eine Schuldumkehr zu betreiben, indem die Alliierten (oder auch jüdische Verschwörer) als die eigentlichen Kriegsverbrecher und Schuldigen dargestellt werden. Wer Nationalismus und Stolz auf die deutsche Geschichte propagiert, muss versuchen, sie vom Makel der NS-Verbrechen zu befreien, sie gewissermaßen zu entkriminalisieren. Oder man schiebt sie anderen in die Schuhe. So behaupten Rechtsextreme neuerdings, die Nazis seien in Wirklichkeit Linke gewesen, schließlich nannten sie sich ja National-„Sozialisten“. Auf diese Weise versuchen sie, rechtsextremes Denken vom Stigma Auschwitz zu befreien.

In jüngster Zeit hat sich dieser Trend verstärkt. Im Zuge digitaler Desinformation flutet eine neue Welle geschichtsrevisionistischer Mythen die sozialen Medien. Was früher nur bei obskuren Verlagen mit Postfachadressen verfügbar war, ist heute nur einen Mausklick entfernt. In Foren, Blogs und sozialen Netzwerken kursieren Holocaust-verharmlosende und NS-verherrlichende Inhalte, die mit alarmierender Geschwindigkeit viral gehen. Und es bleibt nicht bei digitalen Angriffen auf die Erinnerungskultur: Immer öfter melden Gedenkstätten Schmierereien mit rechtsextremen Inhalten auf Info- oder Gedenktafeln. Besonders fassungslos macht, dass in Weimar in den vergangenen Jahren rund 50 Bäume abgesägt wurden, die an Häftlinge des KZ Buchenwald erinnern.

Die Verantwortung für diese Entwicklung liegt nicht nur bei anonymer Internetpropaganda, sondern auch bei politischen Akteuren, die geschichtsrevisionistische Mythen aktiv verbreiten und die Gedenkstättenarbeit anfeinden. Das gilt vor allem für die die rechtsoffene bis rechtsextreme Mischszene aus Reichsbürgern, „Montagsdemonstranten“, Identitären, Pandemieleugnern, Putin-Anhängern wie auch die Neue und die Alte Rechte – und für die AfD. Letztere ist sowohl Symptom als auch Motor dieser Entwicklung. Wiederholt hat sie sich durch geschichtsrevisionistische Parolen hervorgetan.

Ein prominentes Beispiel ist der AfD-Politiker Jörg Prophet. Er diskreditierte die Gedenkstättenarbeit als „Schuldkult“, setzte die britischen Luftangriffe auf Dresden im Februar 1945 mit dem Judenmord in Auschwitz gleich und raunte von deutschen Opfern in den Rheinwiesenlagern. Wenn solche Thesen aus den Parlamenten heraus verbreitet werden, verleiht ihnen das eine scheinbare demokratische Legitimation.

Häufig werden geschichtsrevisionistische Mythen, Chiffren und Signalwörter von Menschen außerhalb des Milieus gar nicht in ihrer Bedeutung erkannt – oft, weil das historische Wissen nicht vorhanden ist. Geschichtsrevisionistische Mythen können sich so ungehindert verbreiten; entsprechende Narrative werden zunehmend normalisiert. Hier setzt das Projekt „Geschichte statt Mythen“ der Uni Jena und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora an. Es verbindet Forschung mit historisch-politischer Bildung: Systematisch werden durch das Monitoring von Reden, Publikationen und Social-Media-Posts geschichtsrevisionistische Positionen in der rechtsextremen und rechtsoffenen Mischszene in Thüringen erfasst und die Argumentationsmuster ausgewertet.

Dabei fragt das Projekt auch nach dem Fortwirken geschichtspolitischer Positionen der SED-Propaganda. Die Ergebnisse werden fortlaufend in einem Blog veröffentlicht. Darin werden nicht nur die gängigen geschichtsrevisionistischen Legenden vorgestellt, sondern es wird auch deutlich gemacht, wer sie mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck verbreitet. Einträge finden sich etwa zu den AfD-Politikern Björn Höcke und Jörg Prophet, aber auch zu Erinnerungsorten der Neuen Rechten wie der „Gedächtnisstätte Guthmannshausen“, die Geschichtsrevisionismus mit Ahnen-Esoterik verbindet.

Der Blog richtet sich an die allgemeine Öffentlichkeit, bietet aber sicherlich auch Fachleuten neue Informationen. Gefördert wird das Projekt von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, leider vorerst nur bis April 2025. Es ist zu hoffen, dass sich eine Anschlussfinanzierung findet, denn es ist kaum zu erwarten, dass der Geschichtsrevisionismus im Frühjahr 2025 urplötzlich von der Bildfläche verschwindet. Es liegt in der Verantwortung der Gesellschaft, sich dem Geschichtsrevisionismus entgegenzustellen und sich dafür einzusetzen, dass die auf wissensbasierte Reflexion und die Würdigung der Opfer ausgerichtete Erinnerungskultur erhalten bleibt, denn auf ihr basiert unser demokratisches Wertesystem.

 


Verwaltung mit mörderischen Folgen

Von Henning Borggräfe im KSta vom 14.12.2024

Dies ist meine letzte Kolumne in der Reihe „Brandbriefe“. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, einmal nicht über die gegenwärtige Entwicklung der extremen Rechten oder über neue antisemitische und rassistische Vorfälle zu schreiben. Stattdessen soll es um die zukünftige Entwicklung des NS-Dok als Gedenkstätte gehen, und damit um die Frage, welche Geschichte(n) wir über das EL-DE-Haus und über die Kölner Stadtgesellschaft im Nationalsozialismus erzählen.

In Vorbereitung einer geplanten Neugestaltung der Dauerausstellung und weiterer Publikumsflächen im EL-DE-Haus beschäftigen wir uns derzeit intensiv mit der konkreten Nutzung des Gebäudes durch die Kölner Gestapo. Das Interesse an der Hausgeschichte konzentrierte sich lange Zeit auf das ehemalige Gefängnis im Keller mit den zahlreichen Wandinschriften der Häftlinge. Die darüber liegenden Büroetagen der Gestapozentrale erhielten weniger Aufmerksamkeit. Doch neben Inhaftierung, Folter und Hinrichtungen bestand das Gestapohandeln größtenteils aus bürokratischen Routinen: mit Bürgerinnen und Bürgern, Behörden und anderen Stellen kommunizieren, Akten führen, Karteien pflegen, Listen schreiben. Banal erscheinendes Verwaltungshandeln – mit oft mörderischen Konsequenzen. Seit ich vor zwei Jahren im NS-Dok angefangen habe, beschäftigt mich die Frage, was, wo im EL-DE-Haus geschah. Bisher standen wir vor dem Problem, dass sich aus zwei Mitarbeiterverzeichnissen der Gestapo für 1939/40 zwar nachvollziehen ließ, welche Zimmernummern den Büros der verschiedenen Referate zugewiesen waren. Diese Nummern ließen sich jedoch nicht den Räumen auf den Etagen und Fluren im El-De-Haus zuordnen. Durch den Fund zweier Luftschutzordnungen, in denen für einige Nummern vermerkt ist, auf welcher Etage die zugehörigen Zimmer lagen und ob die Fenster mit Holzrollos ausgestattet waren oder ob für die Verdunkelung Vorhänge angebracht werden mussten, lässt sich dieses Rätsel nun lösen – denn die alten Führungsschienen der Rollos sind noch vorhanden.

So wissen wir jetzt etwa, dass die Leiter der Gestapozentrale, die Organisatoren des Terrors in Stadt und Region, im 1. Obergeschoss nahe dem Treppenhaus an der Elisenstraße ihr Büro hatten – ironischerweise befinden sich dort heute die Teeküche des NS-Dok und ein WC. Die Schreibtische der Gestapo-Beamten, die die Ausgrenzung und Deportation der Kölner Jüdinnen und Juden organisierten, standen im 2. Obergeschoss am Appellhofplatz – in den Räumen der 1997 eröffneten Dauerausstellung, welche die Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung thematisiert, sie aber nicht direkt mit dem Haus in Beziehung setzt.

Der Quellenfund ist deshalb so wichtig, weil bei einer Neugestaltung der Ausstellung der historische Ort erzählerisch noch stärker ins Zentrum rücken soll. Dieser Fokus wird kombiniert mit einer Geschichte der Kölner Stadtgesellschaft im Nationalsozialismus, in der das Alltagshandeln und die Erfahrungen der Bevölkerung im Mittelpunkt stehen: Wie haben sich einzelne Deutsche in der NS-Diktatur verhalten? Wie nahmen sie Ausgrenzung und Verfolgung wahr? Wie waren sie daran beteiligt? Und wie erlebten dies diejenigen, die zu Opfern der NS-Gewalt wurden? Die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu betreiben und zu ermöglichen, ist eine Kernaufgabe der Gedenkstätten – hierauf hat auch Jens-Christian Wagner in seiner letzten Kolumne hingewiesen. Im gegenwärtigen politischen Klima geraten die Gedenkstätten verstärkt unter Druck und werden angegriffen, wie wir in den letzten Wochen immer wieder aufgezeigt haben.

Gedenkstätten unter Druck

Diese Angriffe müssen von Politik und Gesellschaft abgewehrt werden. Zugleich müssen aber auch die Gedenkstätten ihre Ausstellungen und Vermittlungsangebote weiterentwickeln, um ihren Aufgaben in einer sich wandelnden Gesellschaft gerecht zu werden. Von Beginn an empfand ich die enge Anbindung des NS-Dok an die Kölner Stadtgesellschaft als große Stärke. Die heutige Stadtgesellschaft ist jedoch zunehmend von Menschen ohne einen engen oder auch jeglichen familiären Bezug zur Kölner NS-Geschichte geprägt. Sie schauen mit anderen Fragen und Interessen auf die NS-Zeit, als die letzte „Erlebnisgeneration“, an die sich die jetzige Dauerausstellung bei ihrer Eröffnung im Jahr 1997 noch stark richtete.

Es braucht ein neues Angebot für das historische Lernen in der postmigrantischen Stadtgesellschaft Kölns, das die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auch zukünftig lebendig halten kann. Eine große Aufgabe, an der wir in den kommenden Jahren im NS-Dok arbeiten möchten.


Niemand wird nach nur einem Besuch zum besseren Menschen

Jens-Christian Wagner im Kölner Stadtanzeiger vom 7.12.2024

In den vergangenen 30 Jahren wurden die Gedenkstätten stark ausgebaut. Mittlerweile gibt es in Deutschland rund 300 Gedenk- und Bildungsstätten, die an den Nationalsozialismus und seine Opfer erinnern. Zugleich erleben wir seit 2015 mit den Wahlerfolgen der AfD den Aufstieg einer Partei, aus deren Reihen die Gedenkstättenarbeit als „Schuldkult“ diskreditiert wird und deren Funktionäre notorisch Holocaust-Verharmlosung verbreiten. Besonders große Zustimmung fand die AfD bei den letzten Landtagswahlen bei jungen Wählerinnen und Wählern – Menschen, die vermutlich vor gar nicht allzu langer Zeit mit ihrer Schulklasse eine Gedenkstätte besucht haben.

Wie kann es sein, dass diese Leute die AfD wählen und offenbar für geschichtsrevisionistische Parolen empfänglich sind? Nun wäre es falsch, für die hohen Zustimmungswerte der extrem Rechten die Gedenkstätten verantwortlich zu machen. Der Rechtsruck in Deutschland und weltweit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, dem sich alle stellen müssen, allen voran die demokratischen Parteien, aber auch die Unternehmen, die Gewerkschaften, die Schulen, die Medien und nicht zuletzt jeder einzelne: in der Familie, im Freundeskreis, im Betrieb, im Verein.

Zudem haben die Gedenkstätten zu Recht immer davor gewarnt, sie als demokratische Läuterungsanstalten wahrzunehmen: Niemand wird zu einem besseren Menschen und überzeugten Demokraten, nur weil er einmal eine Gedenkstätte besucht hat. Gedenkstättenbesuche sind keine Schutzimpfung gegen rechts. Gleichwohl müssen wir uns die Frage stellen, ob unsere Erinnerungskultur, auf die viele in Deutschland so stolz sind, nicht auch Defizite aufweist. Das fängt schon mit Begrifflichkeiten an: An was sollen sich eigentlich 16-jährige Schüler „erinnern“, wenn sie eine Gedenkstätte wie Buchenwald besuchen? Auf sie wirkt der Appell, sich an etwas erinnern zu sollen, was mittlerweile selbst ihre Großeltern nicht mehr selbst erlebt haben, als Überforderung, die leicht in Abwehr münden kann. Am besten wäre es, den Begriff der Erinnerung aus der Geschichtskultur zu streichen. Statt um affirmative Erinnerung geht es um Reflexion, um den kritischen Blick auf Geschichte und Gegenwart. Ein weiteres Manko unserer „Erinnerungskultur“ ist ihr Opferzentrismus. Sicherlich, im Sinne der Würdigung stehen die Opfer im Mittelpunkt, es sollen schließlich nicht die Täter geehrt werden. Aber historisch-politische Bildung muss doch nicht nur danach fragen, wer die Opfer waren, sondern auch, wer sie zum Opfer gemacht hat. Das heißt, dass nach den Tätern und Mittätern, nach den Profiteuren und den Zuschauern gefragt werden muss – und danach, wie die NS-Gesellschaft als radikal rassistisch und antisemitisch formierte „Volksgemeinschaft“ funktionierte, eine Gemeinschaft, die sich vor allem darüber definierte, wer nicht dazu gehörte und ausgegrenzt, verfolgt und am Ende vielfach auch ermordet wurde. Es gilt, sich gesellschaftsgeschichtlich mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu beschäftigen und danach zu fragen, was die meisten Deutschen zum Mitmachen motivierte. Verheißungen der Ungleichheit und Ideologien der Ungleichwertigkeit spielten da eine große Rolle, wie auch die öffentliche Kriminalisierung der Ausgegrenzten, die der Mehrheitsbevölkerung als gefährliche Feinde präsentiert wurden.

Doch statt eines kritischen Blicks auf die NS-Gesellschaft erleben wir – weniger in der Gedenkstättenarbeit als in der normativen Rhetorik der Erinnerung – überwiegend eine Fokussierung auf die Opfer, nicht selten sogar eine Identifikation, was seitens der Post-Tätergesellschaft eine Anmaßung ist. Aber es scheint eben einfacher zu sein, mit und um Opfer zu trauern und sich damit gewissermaßen selbst moralisch zu überhöhen, als Fragen nach den Hintergründen der Verbrechen zu stellen. Solche Fragen könnten mit Blick auf die eigene Familiengeschichte auch wehtun; deswegen werden sie zu wenig gestellt. Stattdessen blendet das bloße Trauern um die Opfer alles aus, was die Verbrechen erst ermöglichte: mörderischer Rassismus, Antisemitismus und Antikommunismus, Antiliberalismus, die Unterscheidung zwischen wertvollen „Produktiven“ und wertlosen „Unproduktiven“, soziale Aufstiegsversprechungen, Nationalismus sowie Eroberungs- und Vernichtungsfantasien.

Eine derart entkontextualisierte Erinnerungskultur, die eher eine Verdrängungskultur ist, wirkt entlastend. Es ist eine Wohlfühl-Erinnerungskultur, die niemandem wehtut – außer den Opfern und ihren Angehörigen, die fühlen, dass sie instrumentalisiert werden. Am perfidesten zeigte dies im vergangenen Jahr ein Twitter-Post hochrangiger AfD-Bundestagsabgeordneter um Beatrix von Storch, die zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar ein Foto von sich posteten, wie sie Tafeln mit der Inschrift „#weremember“ hochhalten. Hier wurde die Entkontextualisierung auf die Spitze getrieben und das Schlagwort von der „Erinnerung“ zu einer ahistorischen Worthülse degradiert.

Das „Versöhnungstheater“, wie der Publizist Max Czollek diese Art von Erinnerungskultur nennt, müssen wir durch eine wirkliche kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte ersetzen – wissenschaftlich fundiert und quellengestützt, sauber aus der Geschichte heraus argumentierend und zugleich immer auch mit einer in die Gegenwart gerichteten Perspektive: Wie sieht es denn heute mit Verheißungen der Ungleichheit aus oder mit Rassismus und Antisemitismus?

Eine solchermaßen erneuerte Erinnerungskultur wird die Rechtsextremen und ihre menschenfeindlichen Ideologien nicht allein zurückdrängen können. Aber sie kann helfen, Geschichtsbewusstsein und historische Urteilskraft in der Gesellschaft zu stärken – und das Bewusstsein der Menschen dafür, welche Relevanz die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen für unsere demokratische Selbstverständigung und die Achtung von Demokratie und Menschenrechten hat. Das Grundgesetz regelt nicht nur das Zusammenleben der Menschen in Deutschland, sondern war 1949 auch eine Antwort auf die NS-Verbrechen. Nicht umsonst heißt es in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Würde des Menschen, nicht nur des Deutschen.


Traurigerweise Normalität

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom
30. November 2024

In seiner letzten Kolumne schrieb Jens-Christian Wagner über ein wichtiges Urteil des Verwaltungsgerichts Weimar zur Abweisung einer Klage der AfD gegen die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Er erwähnte, dass auch Lehrer*innen aufgrund vermeintlicher Verletzungen des Neutralitätsgebots im Fokus der Partei stehen.

Passend hierzu berichtete der „Kölner Stadt-Anzeiger“ am vergangenen Mittwoch über Vorgänge im NRW-Landtag, wo die AfD in den letzten Monaten eine Reihe kleiner Anfragen zum Verhalten des Lehrpersonals an Kölner Schulen gestellt hat. Den Anlass bildeten Proteste gegen AfD-Parteitage in den Schulen, aber auch eine Nichteinladung der Partei zu einer Diskussionsrunde im Vorfeld der Europawahl.

Fragen nach der Weitergabe von Informationen über einen Parteitag in einer Schule an Eltern und Schüler*innen, nach einer möglichen Beteiligung von Lehrer*innen am „Basteln von ‚Anti-AfD‘-Plakaten“ und zuletzt sogar nach den Namen von Lehrer*innen, die an einer bestimmten schulinternen Sitzung teilgenommen hatten, zielen darauf, disziplinarrechtliche Maßnahmen gegen diejenigen zu erwirken, denen man Verstöße gegen das Neutralitätsgebot vorwirft. Eine Elterninitiative der betreffenden Schule erkennt dahinter die Absicht, diese und andere Schulleitungen und Lehrerkollegien zu verunsichern. Sie sollen nicht nur davon abgehalten werden, mit ihren Schüler*innen über solche Parteitage in den eigenen Räumen zu sprechen und die Frage der Verfassungsfeindlichkeit der Partei zu diskutieren. Selbst die bloße Weitergabe der Information über eine entsprechende Veranstaltung soll verhindert werden. Proteste im Vorfeld und am Tag selbst wären damit faktisch unmöglich.

Die Klage gegen die Gedenkstätte Buchenwald und die Anfragen im NRW-Landtag können als Beispiele für eine Strategie begriffen werden, durch das Vorgehen gegen einzelne Personen eine diskursive und praktische „Normalisierung“ der Partei herbeizuführen. Der vom Verfassungsschutz im Bund als „rechtsextremistischer Verdachtsfall“ und in einigen Bundesländern als „gesichert rechtsextrem“ eingestuften Partei geht es darum, mit ihren politischen Forderungen in der Bevölkerung als „normal“ wahrgenommen und von staatlichen oder staatlich geförderten Einrichtungen – Schulen, aber auch Gedenkstätten – wie eine demokratische Partei behandelt zu werden. „Deutschland. Aber normal“ lautete der Slogan zur Bundestagswahl 2021, der nach wie vor auf vielen Artikeln prangt, die über die Website des „Fanshops“ der AfD bestellt werden können.

Was viele Menschen in diesem Land traurigerweise für normal zu halten scheinen, macht die vor zwei Wochen veröffentlichte neue Leipziger Autoritarismus-Studie deutlich. Eine steigende Zahl von Menschen steht der Demokratie ablehnend gegenüber. Rassistische und antisemitische Aussagen finden gerade auch in West-Deutschland immer mehr Anklang. Schon seit mehreren Jahren teilen etwa 60 Prozent der Befragten die Auffassung, dass man sich „lieber gegenwärtigen Problemen“ widmen solle, statt der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. „Und 17 Prozent hielten es – trotz oder vielleicht auch wegen des NS-Vokabulars in der vorformulierten Aussage – für eine gute Idee, wenn es in Deutschland „eine einzig starke Partei“ gäbe, „die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert. Weitere 21 Prozent stimmen dieser Aussage wenigstens teilweise zu

Dieses politische Klima bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Erinnerungskultur zu Nationalsozialismus und Holocaust und damit auch auf die Gedenkstätten. Das zeigen auch die jüngsten Vorfälle aus Köln: Über die Kommentarfunktion zum digitalen Gedenkbuch der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus auf der Website des NS-Dokumentationszentrums, die dazu gedacht ist, Wissen zu teilen, erhielten wir kürzlich extrem beleidigende Nachrichten, in denen einzelne Ermordete herabgewürdigt und ihr Tod belacht wurde. Und am Kölner Hauptbahnhof wurde in der vergangenen Woche das Mahnmal „Die Schwelle“, das an die Deportation der Juden unter der Mitwirkung der Reichsbahn erinnert, aus der Verankerung gerissen und so stark beschädigt, dass es vorerst abgebaut werden musste.

Angesichts dieser Gesamtsituation ist es umso wichtiger, dass die Gedenkstätten in Deutschland, die mit öffentlichen Mitteln gefördert werden oder – wie das NS-Dok – selbst Teil der öffentlichen Verwaltung sind, sich durch das Urteil des Verwaltungsgerichts Weimar darin bestärkt sehen können, sich auch politisch zu äußern, wenn es den Kern der eigenen Arbeit betrifft.


Gedenken kann nicht unpolitisch sein

VON JENS-CHRISTIAN WAGNERim KSta vom 23.11.2024

Systematisch versucht die AfD, Beschäftigte im öffentlichen Dienst, die sich gegen ihre rassistischen und geschichtsrevisionistischen Parolen positionieren, mit Verweis auf das parteipolitische Neutralitätsgebot einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen. Das gilt etwa für Lehrerinnen und Lehrer, auf die auf von der Partei eingerichteten Meldeportalen aufmerksam gemacht werden soll, wenn sie sich gegen die AfD geäußert haben.

Auch Beschäftigte von Gedenkstätten versucht die AfD immer wieder mit Verweis auf das Neutralitätsgebot einzuschüchtern und von einer klaren Haltung gegenüber ihren geschichtsrevisionistischen und Holocaust-verharmlosenden Positionen abzubringen. Diese Versuche hat das Verwaltungsgericht Weimar nun erfreulich deutlich zurückgewiesen: Es schreibt, die Gedenkstätten seien „berechtigt, in aktuelle Diskussionen zu den Opfern, deren in den Gedenkstätten (…) gedacht wird, einzutreten und selbst zu allen Fragen im Zusammenhang mit den Opfern und zu der Gestaltung der Erinnerungsarbeit Stellung zu nehmen.“ Dabei dürften sie „auch Äußerungen Dritter, die das Gedenken und Erinnern an die Opfer berühren, bewerten und einordnen. Eine solche Einordnung kann nicht neutral erfolgen, sondern setzt das aktive Eintreten für die Opfer voraus.“

Und weiter: „Aus dem Stiftungszweck ergibt sich die Befugnis der aktiven Ausgestaltung des Gedenkens in Form der sachlichen Einordnung und Bewertung politischer Äußerungen, die einen Bezug zu der Würde der Opfer haben.“ Gedenkstätten seien „die Stimme der Opfer, die selbst nicht mehr aktiv an der Erinnerungsarbeit teilnehmen können“ (Beschluss des VG Weimar vom 6.11.2024, AZ: 8 E 1652/24 We).

Anlass war die Klage der AfD gegen einen Brief, den die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora vor der Landtagswahl als Postwurfsendung an ältere Bürgerinnen und Bürger in Thüringen geschickt hatte. Das Schreiben informierte sachlich darüber, wie die Thüringer AfD systematisch versucht, die Schrecken des Nationalsozialismus kleinzureden, die NS-Sprache wieder salonfähig und die Erinnerungskultur verächtlich zu machen.

Unmittelbar nach der Verteilung der ersten Briefe setzte über Social Media eine Desinformationskampagne der Thüringer AfD ein. Dabei wurde wahrheitswidrig behauptet, die Stiftung habe für den Brief Steuermittel missbraucht, sie habe gegen den Datenschutz verstoßen (indem sie sich illegal die Adressen der älteren Thüringer beschafft habe) und sie habe gegen das Neutralitätsgebot verstoßen. Tatsächlich wurden für die Verteilung der Postwurfsendung in einer Auflage von 350.000 Stück in ganz Thüringen ausschließlich Spendenmittel des Vereins campact verwendet, der auch den Versand über die Deutsche Post organisierte. Letztere hat pauschalisierte Verteiler zu Haushalten angenommener bestimmter Zielgruppen; in diesem Fall die Gruppe Ü 65 in Thüringen. Folge der Desinformation der AfD war ein „Shitstorm“ von beschimpfenden Emails, Anrufen und analogen Schreiben, die die Stiftung und ihre Mitarbeiter:innen erreichten. Dazu gehörten auch mehrere Mails bzw. Briefe mit Morddrohungen gegenüber dem Stiftungsdirektor („ein Galgen, ein Strick, ein Wagnergenick“). Und es ging eine Klage der Thüringer AfD beim Verwaltungsgericht Weimar auf Unterlassung ein. Diese Klage hat das Gericht nunmehr im Grundsatz zurückgewiesen. Lediglich einen Halbsatz in einem erläuternden Text zum Wahlbrief, den die Gedenkstättenstiftung auf ihrer Website veröffentlicht hatte und der als Aufruf verstanden werden kann, die AfD nicht zu wählen, wurde beanstandet und musste gelöscht werden.

Den eigentlichen „Wahlbrief“ mit dem Hinweis auf geschichtsrevisionistische und gegen die Gedenkstättenarbeit gerichtete Positionen aus der AfD befand das Gericht hingegen als sachlich zutreffend und rechtskonform. Solche Positionen sind nicht zuletzt gegen den gesetzlich definierten Zweck der vom Land Thüringen errichteten Gedenkstätten-Stiftung gerichtet. Deshalb, so bestätigte das Gericht, kann es hier keine Neutralität geben; vielmehr leitet sich aus dem Stiftungsgesetz die Verpflichtung ab, die Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und die Opfer der NS-Verbrechen gegenüber solchen Angriffen zu schützen.

Für die Gedenkstätten in Deutschland ist der Gerichtsbeschluss eine gute Nachricht. Er bestätigt ihre gesellschaftspolitischen Aufgaben, zu denen grundsätzlich gehört, die Würde der NS-Opfer zu schützen und ein kritisches historisches Bewusstsein in der Gesellschaft durch historisch-politische Interventionen zu stärken – ganz explizit auch, indem sie in aktuelle politische Debatten eingreifen.

Es ist bezeichnend, wenn die AfD versucht, die Wirkungsfähigkeit der Gedenkstätten einzuschränken und ihre Leitungen einzuschüchtern – übrigens auch mittels einer Kleinen Anfrage der AfD-Fraktion im Bundestag vom 2. September 2024, die der Leitung der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora „fortlaufend undemokratisches Verhalten“ unterstellt). Demgegenüber kann man nicht oft genug betonen: Eine KZ-Gedenkstätte kann nicht unpolitisch sein; sie muss ihre Stimme erheben, wenn Geschichte verfälscht und die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus missachtet wird. Gegenüber der Holocaust-Verharmlosung gibt es für Gedenkstätten – wie auch für jeden Menschen, der auch nur einen Funken Moral und Anstand besitzt – keine Neutralität. Das hat das Verwaltungsgericht Weimar nun ausdrücklich bestätigt.


Ist Köln eine politische Insel der Seligen?

Von Henning Borggräfe

Die vorvergangene Woche stand in Köln im Zeichen des Gedenkens an die NS-Verfolgten. Sie war zugleich wieder einmal geprägt von Ereignissen außerhalb der Stadt, die Kopfschütteln und Fragezeichen hinterlassen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und mit gegenwärtigen Herausforderungen kennzeichnet das Profil des NS-Dok. Und doch ist es mitunter schwierig, mit der Gleichzeitigkeit umzugehen. Leben wir in Köln – wie ich in Gesprächen immer wieder höre – auf einer Insel der Seligen, wenigstens, was die politische Lage angeht? Oder sehen viele nur nicht, welche Entwicklungen sich schon vollziehen und abzeichnen?

Am Dienstag verlegten die Kolleg*innen mit dem Künstler Gunter Demnig und engagierten Bürger*innen zahlreiche neue Stolpersteine. Angehörige jüdischer ehemaliger Kölner*innen waren für die Verlegungen angereist, suchten anschließend im NS-Dok den Austausch und sahen Quellen zur Familiengeschichte ein. Währenddessen flog in Sachsen, Jens-Christian Wagner hat hierüber geschrieben, die nächste mutmaßliche rechte Terrorgruppe auf, deren personelle Verbindungen zum AfD-Jugendverband „Junge Alternative“ kaum mehr überraschen. Mittwochvormittags sprachen wir im Vorstand des Verbands der Gedenkstätten in Deutschland über den jüngsten Entwurf zur Neufassung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, die in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden sollte. Nachmittags bereiteten wir im NS-Dok die Verlängerung des Projekts der „Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus“ vor, das aus Bundesmitteln kofinanziert wird. Abends platzte die Koalitionsregierung in Berlin und ich fragte mich nicht nur, welche Auswirkungen dies auf das haben wird, woran wir tagsüber gearbeitet hatten, sondern auch, was baldige Neuwahlen für das Risiko eines weiteren Erstarkens der extremen Rechten bedeuten werden.

Am Donnerstagabend feierten wir im NS-Dok die Verleihung des Bilz-Preises an die Initiative „Stimmen der Solidarität“, die sich mit bewundernswerter Ausdauer für politisch Inhaftierte in der Türkei und im Iran einsetzt. Beim Empfang kreisten viele Gespräche um die Ereignisse des Vorabends und die Auswirkungen vorgezogener Bundestagswahlen mit Blick auf die AfD. Kurze Zeit später wurden in Amsterdam am Rande eines Fußballspiels Juden von sogenannten propalästinensischen Demonstranten angegriffen und durch die Straßen gejagt.

Freitagvormittags die Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Pogromnacht in der Synagoge Roonstraße. Schüler*innen stellten in eindrucksvollen Beiträgen Biografien verfolgter Kölner Jüdinnen und Juden vor und reflektierten in Gedichten über die Erinnerungskultur. Abraham Lehrer, Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln, fand klare Worte zu den Vorfällen in Amsterdam und zur politischen Lage hierzulande. Der Alltag vieler Kölner Jüdinnen und Juden ist angesichts unzähliger antisemitischer Vorfälle in Deutschland und Europa weit von Normalität entfernt. Gemessen am Vorjahr war die Beteiligung der Kölner Stadtgesellschaft am Gedenken eher gering. Dies war hoffentlich der außergewöhnlichen Uhrzeit geschuldet und kein Zeichen dafür, dass die Solidarität mit der jüdischen Gemeinde ein Jahr nach dem mörderischen Terror der Hamas gegen Israel deutlich nachgelassen hat.

Zum Wochenabschluss fand am Sonntag das Gedenken zum 80. Jahrestag der zweiten öffentlichen Hinrichtung in Ehrenfeld am 10. November 1944 statt. Ohne ein Gerichtsurteil ermordete die Gestapo damals mitten in der Stadt am helllichten Tag 13 Männer und Jugendliche. Viel gäbe es zu schreiben, über den langen Streit um die Einordnung dieser Tat und die Anerkennung der Ermordeten, über die stigmatisierende Bezeichnung von NS-Opfern als „Kriminelle“, was eine jahrzehntelange Ausgrenzung zufolge hatte, aber auch über den Begriff „Widerstandskämpfer“, der vermeintlich Klarheit suggeriert, wo es darum gehen müsste, Graubereiche und Ambivalenzen auszuleuchten. Doch die aktuellen politischen Ereignisse nehmen derzeit gedanklich und in Gesprächen viel Raum ein und es erscheint mir falsch, auf diese Gleichzeitigkeit nicht einzugehen.

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom 16. November 2024

 

 


Kampf um die Erinnerung

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom 2. November 2024

 

In der vergangenen Woche schrieb Jens-Christian Wagner über Akteure der extremen Rechten in Thüringen, deren Geschichtsrevisionismus Elemente der alten DDR-Geschichtspolitik aufgreift, was in breiteren Bevölkerungskreisen auf Zustimmung stößt. Dies ist Ausdruck einer neuen Situation, die sich schon während der Corona-Pandemie und bei Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine abzeichnete: der Rechtsextremismus ist in seinen Erscheinungsformen diffuser geworden, und es entstehen neue Allianzen.

Auch in Köln war dies zuletzt wiederholt zu beobachten. So organisierte der einschlägig bekannte Markus Beisicht, einst führender Kopf der rechtsextremen „Bürgerbewegung pro NRW“, gemeinsam mit prorussischen Aktivisten mehrfach Autokorsos und Demonstrationen „für den Frieden“ und gegen eine vermeintliche „Fremdbestimmung und Besatzung“ Deutschlands durch die USA. Am 6. Mai 2023 versuchten sie, mit einer solchen Demonstration vor das EL-DE-Haus zu ziehen. Zuvor hatte das NS-DOK ihnen verwehrt, den Innenhof der Gedenkstätte für eine propagandistische Inszenierung zum Jahrestag des Kriegsendes 1945 zu nutzen. Fotos dieser Demonstration zeigen deutsche Rechtsextremisten hinter Sowjetunion-Fahnen und Porträts von Soldaten der Roten Armee – ein bizarres Bild.

Ein ähnlicher Instrumentalisierungsversuch folgte im Mai 2024 an der Gedenkstätte im Gremberger Wäldchen, Schauplatz des letzten großen NS-Verbrechens in Köln. Im April 1945, während die Amerikaner die linksrheinischen Stadtviertel schon befreit hatten, ermordeten lokale NSDAP-Funktionäre, Volkssturmmänner und Hitlerjungen bei der Räumung des sogenannten Krankensammellagers im Gremberger Wäldchen zahlreiche dort ausharrende ausländische Zwangsarbeiter. Zwei führende Protagonisten der prorussischen Proteste sind zwischenzeitlich nach St. Petersburg geflohen, um einer Strafverfolgung in Deutschland zu entgehen. Dennoch muss auch zum 80. Jahrestag des Kriegsendes im Mai 2025 mit Vereinnahmungen der NS-Opfer für rechtsextreme und prorussische Propaganda gerechnet werden.

Die aus der Sowjetunion stammenden jungen Frauen und Männer, unter ihnen sehr viele aus dem Gebiet der heutigen Ukraine, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden, werden rückblickend zu russischen Opfern erklärt und für die gegenwärtige Kriegspropaganda vereinnahmt. Tatsächlich sind jedoch zahlreiche dieser heute hochbetagten Menschen und ihre Familien in der Ukraine tagtäglich von russischen Bomben und Raketen bedroht und leiden unter der schwierigen Versorgungslage. Andere sind durch die Angriffe gewaltsam ums Leben gebracht worden – wie der ehemalige Buchenwald-Häftling Boris Romantschenko.

Das NS-DOK steht wie die Gedenkstätte Buchenwald und andere Gedenkstätten seit den 1990er Jahren mit vielen ehemaligen NS-Verfolgten und ihren Familien in der Ukraine in Kontakt. Um sie zu unterstützen, entstand bereits im März 2022 das „Hilfsnetzwerk für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine“. Wenngleich die Aufmerksamkeit für den Krieg in der Ukraine in der deutschen Öffentlichkeit nachgelassen hat, wird Hilfe weiterhin dringend benötigt. Hilfe benötigen aber auch die oft selbstorganisierten Erinnerungsorte an den Holocaust, die nach dem Zerfall der Sowjetunion in der Ukraine entstanden. Dies gilt etwa für das 2009 gegründete Holocaustmuseum in Odessa, getragen von einer regionalen Vereinigung jüdischer Überlebender, deren Vorsitzenden Roman Shvartsman wir kürzlich im NS-DOK kennenlernen durften. Bei der Kölner Museumsnacht am heutigen Samstag haben Sie im NS-DOK die Möglichkeit, sich über die Arbeit des Hilfsnetzwerks und das Museum in Odessa zu informieren und sie zu unterstützen.

 


Wie kann es sein, dass sich Neonazis auf Kommunisten berufen?

Von Jens-Christian Wagner

In Social Media verbreitet sich derzeit ein Video viral, das in dieser Woche beim wöchentlichen „Montagsspaziergang“ in Gera aufgenommen wurde. Zu sehen ist ein junger offenkundiger Neonazi, der die Menge zum gewaltsamen Durchbrechen von Polizeiketten aufruft und sich dabei auf Ernst Thälmann beruft, den im KZ Buchenwald ermordeten Vorsitzenden der KPD.

Wie kann es sein, dass sich ein Neonazi auf einen Kommunisten beruft? Wie kann es sein, dass ausgerechnet im Osten, in der die DDR den antifaschistischen Widerstandskampf propagierte, eine rechtsextreme Partei wie die AfD, die die NS-Verbrechen notorisch verharmlost und die Arbeit der Gedenkstätten als „Schuldkult“ diskreditiert, einen derartigen Wählerzuspruch erhält?

Um diese Frage zu beantworten, muss man sich in die unappetitlichen Niederungen der AfD-Geschichtspolitik in Thüringen begeben: „Gedanken zum Jahrestag der Luftangriffe“, so überschrieb der AfD-Landtagsabgeordnete Jörg Prophet einen Text, den er am 2. April 2020 auf der Website der AfD Nordhausen veröffentlichte. Darin warf er den amerikanischen Soldaten, die das KZ Mittelbau-Dora am 11. April 1945 befreit und mehrere Hundert KZ-Häftlinge gerettet hatten, „Morallosigkeit“ vor. Das erinnert an die SED-Geschichtspolitik. 1964, Prophet war da gerade zwei Jahre alt, präsentierte die Stadt Nordhausen in einer Broschüre über das KZ Mittelbau-Dora ein Foto von Häftlingsleichen in der Nordhäuser Boelcke-Kaserne. In der Bildunterschrift hieß es: „Was die SS nicht mehr vollbrachte, vernichteten die USA-Luftpiraten.“

Den Begriff „Luftpiraten“ hatte schon die nationalsozialistische Propaganda mit Bezug auf die westalliierten Luftangriffe verwendet. Im Fall des Fotos aus der Boelcke-Kaserne bezog sich die Bildunterschrift von 1964 auf einen britischen (nicht: amerikanischen) Luftangriff auf Nordhausen Anfang April 1945, bei dem auch ein KZ-Außenlager in der Boelcke-Kaserne getroffen worden war. Tatsächlich waren die meisten Häftlinge aber nicht beim Luftangriff getötet worden, sondern an den Folgen von Hunger, Zwangsarbeit und Krankheiten gestorben. Sie waren Opfer der SS, nicht der Amerikaner oder der Briten.

Von der antiamerikanischen Bildunterschrift der DDR-Broschüre von 1964 zu Prophets Behauptung von 2020, die US-Befreier des KZ Mittelbau-Dora seien „morallos“ gewesen, zieht sich ein roter Faden. Sein Geschichtsrevisionismus ist ein diffuses Amalgam aus klassisch westdeutschen, rechtsextremen Geschichtsbildern und Nachwirkungen der SED-Geschichtspolitik. Diese präsentierte ein entlastendes Geschichtsbild, wonach die NS-Verbrechen von einer Clique von Monopolkapitalisten und NS-Funktionären begangen worden seien, die nach 1945 alle in den Westen gegangen waren. „Die Blutspur führt nach Bonn“, hieß die Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald in den 1960er Jahren. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung für die NS-Verbrechen blieb damit in der DDR weitgehend aus.

Deutlich fand das SED-Geschichtsbild auch in der Popularisierung des „Schwurs von Buchenwald“ seinen Ausdruck, den die KZ-Überlebenden am 19. April 1945, nur wenige Tage nach ihrer Befreiung, bei einer Kundgebung auf dem Appellplatz abgegeben hatten: „Die endgültige Zerschmetterung des Nazismus ist unsere Losung“, hatten die Befreiten bekundet. Kommunistische ehemalige Häftlinge änderten die Losung wenige Tage später. Sie hieß nun: „Die endgültige Vernichtung des Faschismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung.“ Die Wurzeln, das waren nach SED-Lesart der Kapitalismus und sein politisches System. Damit hatte die DDR-Geschichtspolitik eine stark antiwestliche, antiliberale und antiamerikanische sowie zeitweise auch eine antizionistische (und damit auch tendenziell antisemitische) Aufladung. Damit ist dieses Narrativ auch für heutige Rechtsextreme, die den demokratischen Rechtsstaat westlicher Prägung überwinden wollen, anschlussfähig. Das erklärt, warum der westdeutsche Rechtsextremist Jürgen Elsässer mit seiner „Ami – go home“-Kampagne im Osten recht erfolgreich ist. Es ist also kein Zufall, dass die Weimarer „Montagsspaziergänger“, die eine diffuse rechtsextreme Mischung aus Pandemieleugnern, „Reichsbürgern“, AfD-Funktionären, Putin-Anhängern und „Freien Thüringern“ bilden und sich selbst als „Weimarer Revolution“ bezeichnen, als Logo die zum Schwur erhobene Hand einer Bronzefigur in der berühmten Plastik von Fritz Cremer verwenden, die vor dem 1958 eingeweihten Glockenturm des monumentalen Buchenwald-Mahnmals steht. Die Rechtsextremen postulieren damit, das Vermächtnis des antifaschistischen Widerstandskampfes zu verwirklichen.

Das ist natürlich vollkommen widersinnig. In ihrer eigenen verqueren Logik bekommt es aber Sinn, brandmarken diese Leute doch – wie die DDR-Propaganda – den liberalen Rechtsstaat westlicher Prägung als faschistisch – so wie es auch AfD-Funktionäre und andere Rechtsextreme machen, wenn sie behaupten, im „Widerstand“ gegen das als faschistisch bezeichnete Berliner „Ampel-Regime“ zu stehen. Der Begriff des „Faschismus“ wird damit jeglichen Inhalts beraubt und zum bloßen Kampfbegriff – und zugleich werden der tatsächliche Antifaschismus (also der Einsatz gegen rechtsextremes Gedankengut) und die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus diskreditiert – von der Instrumentalisierung der NS-Opfer einmal ganz abgesehen.

Die DDR wird von der AfD und anderen Rechtsextremen überwiegend abgelehnt, auch wenn sie emotionale nostalgische DDR-Bezüge durchaus nutzen, wie etwa Björn Höcke, der im Thüringer Landtagswahlkampf auf einer Simson, dem DDR-„Kult“-Moped, durchs Land knatterte. Die Geschichtsbilder der SED sind für diese Leute, da sie antiliberal aufgeladen sind, aber anschlussfähig und bilden zusammen mit klassischen westdeutschen geschichtsrevisionistischen Mythen ein aggressiv-ideologisches Gemisch, das den liberalen Rechtsstaat und die Erinnerungskultur zu delegitimieren versucht. Da beruft man sich als Rechtsextremer dann auch gerne mal auf den Kommunisten „Teddy“ Thälmann, um den die SED einen antifaschistischen Märtyrer-Kult inszenierte und nachdem unzählige Schulen wie auch die DDR-Massenorganisatin für Kinder benannt waren.

Für den Erfolg der Rechtsextremen in Ostdeutschland sind die Nachwirkungen der SED-Geschichtspolitik wie auch der autoritären Sozialisation in der DDR selbstverständlich bei weitem nicht allein verantwortlich (eine große Rolle spielt etwa bei vielen Menschen auch das Gefühl der Demütigung durch Westdeutsche während der Transformation nach 1989/90). Zudem ist der Aufstieg der AfD kein reines Ostphänomen, sondern ein bundesweites Problem. Trotzdem lässt es sich nicht leugnen, dass die AfD im Osten größeren Zuspruch hat als im Westen. Und um dafür Erklärungen zu finden, ist die inhaltliche Auseinandersetzung mit der SED-Geschichtspolitik unerlässlich – nicht nur in den Gedenkstätten, sondern auch in den Schulen wie überhaupt in der gesamten Gesellschaft.

 


Die AfD darf nicht normalisiert werden

VON JENS-CHRISTIAN WAGNER

Nach der Landtagswahl in Thüringen ist die Lage desolat. Die geschichtsrevisionistische und vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestufte AfD ist mit fast 33 Prozent der abgegebenen Stimmen stärkste Fraktion im Landtag und hat eine Sperrminorität. Allein das wird ihr helfen, die politische Agenda in Thüringen mitzubestimmen. Hinzu kommt, dass jede mögliche Regierungsvariante ein Schaden für die Demokratie wäre: Eine demokratische Mehrheitsregierung kann nur zustande kommen, wenn sich alle anderen Parteien auf eine Koalition einigen, was angesichts des Unvereinbarkeitsbeschlusses der CDU gegenüber der Linken vermutlich nicht möglich sein wird. Es bliebe als Möglichkeit eine Minderheits- oder „Patt“-Regierung aus CDU, BSW und SPD, die von der Linken formal oder informell toleriert wird.

In jedem Fall hätte das BSW, eine nationalpopulistische, Putin-treue Kaderpartei, die antiwestliche und antiliberale Ressentiments bewirtschaftet, ein großes Erpressungspotential gegenüber der CDU. Der AfD wiederum würde eine Dreier- oder Viererkoalition nutzen, um ihr Opfernarrativ zu verbreiten, wonach sie von allen ausgegrenzt werde und im Land so etwas wie eine Nationale Front 2.0 herrsche, also ein diktatorisches Parteienbündnis wie zu Zeiten der DDR. Dieses Narrativ wird der AfD vermutlich zusätzliche Wähler in die Arme treiben.

Die zweite Regierungsvariante – eine Koalition von CDU und AfD oder BSW und AfD oder eine CDU-Regierung unter Tolerierung der AfD – wäre ein noch größerer Schaden für die Demokratie. Das würde rechtsextreme Narrative normalisieren und eine Politik zu Lasten aller bedeuten, die nicht in das völkische Weltbild der AfD passen. Die AfD käme ihrem Ziel, in Thüringen kulturelle Hegemonie zu erlangen, einen großen Schritt weiter.

Für die Demokratie in Thüringen herrscht mithin eine Loose-Loose-Situation. Was also tun? Eine AfD-getragene oder tolerierte Regierung wäre der Worst Case und muss unbedingt verhindert werden – gerade auch aus der Perspektive der Gedenkstättenarbeit. Eine geschichtsrevisionistische Partei, aus deren Reihen notorisch der Holocaust verharmlost oder sogar positive NS-Bezüge gesetzt werden, wäre eine Katastrophe für die Gedenkstättenarbeit. Nicht umsonst beobachten KZ-Überlebende und ihre Angehörigen die Lage in Thüringen mit banger Spannung.

Es bleibt also nur das kleinere Übel: eine Regierungsbildung unter Beteiligung mindestens von CDU, BSW und SPD unter Tolerierung der Linken. Eine solche Koalition zu schmieden ist eine Riesenaufgabe, um die ich den Thüringer CDU-Vorsitzenden Mario Voigt nicht beneide, zumal er ja auch noch mit mehr oder weniger kontraproduktiven „Ratschlägen“ aus Berlin und Saarbrücken konfrontiert ist.

Und dann geht es auch noch – völlig unabhängig von der Zusammensetzung der Regierung – um die Zusammenarbeit der Parteien im Landtag. Was es ganz praktisch bedeuten könnte, wenn der Landtagspräsident von der AfD gestellt wird, hat das unwürdige und undemokratische Schauspiel am Donnerstag gezeigt, als der Landtag eigentlich zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentreten sollte und der von der AfD gestellte Alterspräsident demokratische Mehrheitsentscheidungen mutmaßlich rechtswidrig verhindert hat, indem er Geschäftsordnungsanträge der demokratischen Fraktionen systematisch ignorierte und damit die Konstituierung des Landtags sabotierte.

Nicht nur aus diesem Grund müssen die demokratischen Fraktionen alles daran setzen, einen Landtagspräsidenten oder eine Präsidentin aus den Reihen der AfD zu verhindern. Immerhin ist der Landtagspräsident protokollarisch der höchste Repräsentant des Freistaates Thüringen. Wenn eine solche Position von einem oder einer Rechtsextremen besetzt würde, wäre das ein erheblicher Schaden für das Land.

Auch ein Vizepräsident der AfD würde die Demokratie beschädigen, es ist aber fraglich, ob sich das durchhalten lässt. Das gilt auch für die Ausschussvorsitzenden. Hier sollte aus Sicht der Gedenkstätten zumindest sichergestellt werden, dass die AfD nicht den Vorsitz im Kulturausschuss und im Bildungsausschuss erhält. Im Übrigen sollten sich alle demokratischen Parteien einig sein, dass es im Landtag keinerlei Zusammenarbeit mit der AfD geben darf. Es darf nicht sein, dass eine undemokratische Minderheit eine demokratische Mehrheit in Geiselhaft nimmt, wie es am Donnerstag im Landtag geschehen ist.


Die mörderische Ideologie des Antisemitismus

Henning Borggräfe im Kölner Stadtanzeiger vom 11.9.2024

Die Wahlen in Thüringen und Sachsen liegen jetzt eineinhalb Wochen zurück, aber sie beschäftigen mich und das Team des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln immer noch stark. Wie Jens-Christian Wagner, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, vergangene Woche schrieb, ist der Wahlerfolg der AfD erschütternd und deprimierend. Herr Wagner hat sich vor den Wahlen mit beeindruckender Klarheit und Beharrlichkeit für die Demokratie und gegen Geschichtsrevisionismus eingesetzt – und wird nun massiv bedroht.

Aus dem mehr als vier Fahrtstunden von Buchenwald entfernten Köln, mag manchen die dortige Situation weit weg vorkommen – und tatsächlich bin ich froh, dass wir hier in anderen politischen Verhältnissen leben. Doch auch in Köln erhielt die AfD bei den Europawahlen im Juni erstmals in einem Stadtteil die meisten Stimmen. Und wenngleich nicht so oft wie in Buchenwald, so kommt es auch im NS-DOK immer wieder zu extrem rechten oder antisemitischen Vorfällen. Erst kürzlich hinterließ uns ein Besucher der Dauerausstellung wieder einmal ein akkurat gemaltes Hakenkreuz.

Das NS-DOK und die Gedenkstätte Buchenwald befinden sich beide an historischen Orten. Hier die ehemalige Gestapozentrale der westdeutschen Metropole, dort eines der wichtigsten Konzentrationslager des NS-Terrorsystems. Doch zugleich unterscheiden sich die Orte, historisch wie in ihren Aufgaben. Buchenwald ist heute nicht nur ein Ort der Bildung und des Gedenkens, sondern auch ein Friedhof. Die baulichen Relikte bezeugen die Massenverbrechen. Ihr Erhalt ist eine wichtige, oft wenig beachtete Aufgabe, die viel Geld benötigt. Das NS-DOK liegt als kommunale Einrichtung mitten in der Großstadt und widmet sich mit der Info- und Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus, der Mobilen Beratung und der Fachstelle gegen Antisemitismus, neben der Geschichte stärker auch gegenwartsbezogenen Fragen.

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle darüber schreiben, was Köln und das KZ Buchenwald historisch verband – anhand von Beispielen, die ab morgen in unserer neuen Ausstellung über „Kritik im Nationalsozialismus“ im EL-DE-Haus präsentiert werden. Doch die ersten Sätze der Kolumne hatte ich vergangenen Donnerstag gerade in den Computer getippt, als uns Meldungen über Schüsse vor dem NS-Dokumentationszentrum München und dem benachbarten israelischen Generalkonsulat erreichten. Kurz darauf erschien die Polizei im EL-DE-Haus, um uns zu informieren, dass sie die Bewachung erhöht.

Wie wir heute wissen, hatte der Täter, wie bei dem furchtbaren Anschlag in Solingen, einen islamistischen Hintergrund. Das Münchner NS-Dokumentationszentrum wurde von zwei Schüssen getroffen. Doch das eigentliche Ziel des Angriffs war wohl die Repräsentanz des Staates Israel, wie sich der Judenhass nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder gegen Israel richtet. Die sozialen Medien waren sofort voller Häme gegen die vielfältige Gesellschaft, voller rassistischer Hetze und Rufen nach massenhafter „Remigration“, dieser verharmlosenden Parole, die nicht zuletzt die Wahlsieger von Thüringen in den letzten Monaten popularisiert haben.

Es steht zu befürchten, dass die Taten von Solingen und München der extremen Rechten weiter Auftrieb geben werden. Dabei sind beide, Islamismus und Rechtsextremismus, unbestreitbar zentrale Bedrohungen für eine demokratisch verfasste Gesellschaft, die auf Menschenrechten und Gleichheitsvorstellungen basiert. Beide haben trotz vieler Unterschiede zudem Gemeinsamkeiten – nicht zuletzt die mörderische Ideologie des Antisemitismus.

 


Noch ist die AfD keine NSDAP 2.0

Jens-Christian Wagner über Lehren aus dem Wahlausgang in Thüringen

Drei Tage nach der Landtagswahl in Thüringen hat sich an meinem Entsetzen von Sonntagabend nicht viel geändert: Für jemanden, der sich beruflich der kritischen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen widmet, ist es erschütternd und deprimierend, wenn erstmals seit 1945 Rechtsextreme in einem Bundesland mit knapp einem Drittel der Stimmen stärkste Partei werden. Und in Sachsen sieht es kaum besser aus: Auch dort hat die AfD gut 30 Prozent der Wählerstimmen geholt.

Für die Gedenkstätten ist der Wahlerfolg der AfD bitter. Notorisch verharmlosen Politiker der AfD die NS-Verbrechen und diskreditieren die Erinnerungskultur als „Schuldkult“ – ein Begriff, den der ehemalige SS-Unterscharführer und spätere rechtsextreme „Republikaner“-Chef Franz Schönhuber Anfang der 1980er Jahre in die Welt gesetzt hat und der später von der AfD aufgegriffen wurde. Dahinter steht die geschichtsrevisionistische Legende, die Auseinandersetzung mit den
NS-Verbrechen und die Würdigung ihrer Opfer dienten „fremden Mächten“, vorzugsweise den Juden, dazu, Deutschland kleinzuhalten bzw. seine „Selbstfindung“ zu verhindern, wie der Thüringer AfD-Chef Höcke kürzlich auf X, vormals Twitter, schrieb. Höcke ist es auch, der ständig von „raumfremden Mächten“ raunt, die aus Deutschland vertrieben werden müssten. Raumfremde Mächte – das ist ein Begriff, den der NS-Staatsrechtler Carl Schmitt 1941 eingeführt hat, mitten im Zweiten Weltkrieg.

Dass die AfD ausgerechnet in Thüringen erstmals stärkste Kraft wird, ist bitter und weckt historische Assoziationen, blicken wir historisch doch auf drei Thüringer Sündenfälle auf dem Weg zum NS-Staat: 1924 die erste Tolerierung einer bürgerlichen Minderheitsregierung durch Nationalsozialisten im Deutschen Reich, 1930 die erste Koalitionsregierung mit Nationalsozialisten und 1932 die erste NSDAP-geführte Landesregierung. Thüringen, von den Nazis als „Schutz- und Trutzgau“ bezeichnet, war für die NSDAP ein Experimentierfeld und Sprungbrett auf dem Weg zur Macht in ganz Deutschland.

Nun ist die AfD trotz aller ideologischen Ähnlichkeiten keine NSDAP 2.0, zumindest noch nicht. 1924 ist nicht gleich 1933. Die Unterschiede liegen aber weniger in der Programmatik der beiden Parteien als im historischen Kontext. Die Weimarer Republik stand nicht nur unter Beschuss durch die NSDAP, sondern auch von links, nämlich durch die stalinistische KPD. Diese Gefahr gibt es heute nicht. Unterschied Nr. 2: Weimar war eine Republik ohne Republikaner. Heute stehen die meisten Menschen in Deutschland und auch in Thüringen fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Vergessen wir nicht: 70 Prozent der Thüringer haben die AfD nicht gewählt. Der dritte Unterschied: Anfang der 1930er Jahre herrschte in Deutschland infolge der Weltwirtschaftskrise blanke Not. Heute geht es den meisten Deutschen so gut wie noch nie.

Der vierte Unterschied hat mit historischen Kenntnissen zu tun: Anders als die Zeitgenossen des Jahres 1933 wissen wir, wie das damals ausgegangen ist. Und das verpflichtet uns, wachsam zu sein, und die demokratischen Parteien im Thüringer Landtages mahnt dieses Wissen, jegliche Zusammenarbeit mit den Rechtsextremen zu unterlassen.

 


Wöchentlich im Wechsel mit Hennig Borggräfe, Direktor des NS-DOK, wird Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, künftig in der Kolumne „Brandbriefe – Zwischen Köln und Buchenwald“ über die Arbeit in den Gedenkstätten und die politische und gesellschaftliche Lage in Thüringen und Köln im Kölner Stadtanzeiger schreiben.

Leiter der Gedenkstätte Buchenwald „Ich hoffe auf ein kleines Wunder“

Von Anne Burgmer     31.08.2024

Der Historiker Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, hat in einem Brief an Thüringer vor der AfD gewarnt und sieht erhebliche Defizite in der deutschen Erinnerungskultur.

Herr Wagner, mit welchen Gefühlen schauen Sie auf den Wahlsonntag in Thüringen?

Jens-Christian Wagner: Die liegen zwischen großer Sorge und Hoffnung. Die Umfragen sind nicht sonderlich gut, die AfD liegt bei rund 30 Prozent, das BSW zwischen 15 und 19 Prozent. Im Augenblick ist nicht ersichtlich, wie es eine demokratische Mehrheit im Landtag geben kann. Und es ist zu befürchten, dass die AfD, selbst wenn sie nicht in Regierungsverantwortung gerät, die Sperrminorität im Landtag erhält. Nach Thüringer Verfassung kann eine Partei, die mindestens 33 Prozente der Landtagsmandate hat, Einfluss auf die Tagesordnung des Landtags nehmen und damit auf die Verabschiedung des Haushaltes, auf die Ernennung von Verfassungsrichtern und dergleichen.

Das könnte auch für Ihre Gedenkstätten gravierende Folgen haben.

Ja, das macht mir tatsächlich große Sorgen, weil die AfD eine Partei ist, die notorisch geschichtsrevisionistische Legenden in die Welt setzt, die unsere Arbeit als „Schuldkult“ diskreditiert und die zuletzt zunehmend positive Bezüge zum Nationalsozialismus in die Welt gesetzt hat. Das sind alles Positionen, die gegen die kritische Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und gegen die Würdigung der Opfer der NS-Verbrechen gerichtet sind. Mit Höcke an der Spitze ist die AfD eine eindeutig völkische Partei.

Sie sagten, es gebe auch Hoffnung, was macht Ihnen denn Hoffnung?

Zum Beispiel die Erfahrung, die wir letztes Jahr gemacht haben, als in Nordhausen, wo sich unsere zweite Gedenkstätte Mittelbau-Dora befindet, ein neuer Oberbürgermeister gewählt wurde. Alle sind davon ausgegangen, dass der AfD-Kandidat gewählt wird. In der Zivilgesellschaft herrschte lange Zeit Schockstarre, doch dann ist sie erwacht, ein Bündnis wurde gegründet; wir als Gedenkstätte haben auf holocaustverharmlosende Posts des AfD-Kandidaten hingewiesen. Insbesondere die Älteren wurden mobilisiert. Am Ende hat gegen jede Voraussage der demokratische Kandidat gewonnen. Das war ein kleines Wunder, und auf ein solches kleines Wunder hoffe ich auch am Sonntag.

Sie haben aufgrund dieser Erfahrung vor der Wahl 350.000 Briefe an ältere Thüringerinnen und Thüringer verschickt und vor der AfD gewarnt. Beschimpfungen und Bedrohungen sind für Sie nicht neu. Solche Reaktionen gab es auch bei dieser Aktion. Hat Sie das Ausmaß dennoch überrascht?

Wir sind nicht davon ausgegangen, dass das komplett ohne Reaktion bleiben würde. Und im Grunde wünscht man sich ja auch Reaktionen. Wir sind auch nicht davon ausgegangen, dass die AfD jubeln würde. Das Erfreuliche ist, dass uns deutlich mehr positive Zuschriften erreicht haben als negative, übrigens auch eine ganze Menge Spenden. Das Negative ist, dass es einen Shitstorm gab, nicht nur im Netz, sondern auch per Mail und Brief – mit teils wüsten Beschimpfungen bis hin zu Todeswünschen, teilweise auch mit Klarnamen verfasst. Solche Reaktionen kamen aber nach meinem Eindruck gar nicht so sehr von denjenigen, die tatsächlich die Briefe erhalten haben, sondern von Leuten, die von der Desinformation der AfD und anderer Rechtsextremer animiert wurden, uns zu schreiben.

Wie gehen Sie mit solchen Angriffen und Bedrohungen um?

Eigentlich habe ich es immer geschafft, so etwas von mir wegzuhalten und eine gewisse Distanz dazu zu entwickeln. Ich muss bekennen, dass ich in der letzten Woche morgens mit einem mulmigen Gefühl aufgewacht bin, mit einem Drücken im Bauch. Das ist kein schönes Gefühl. Aber das ist das, was diese Leute wollen. Sie wollen einen einschüchtern, und diesen Gefallen sollten wir ihnen nicht tun.

Warum ist die AfD gerade in den ostdeutschen Bundesländern so stark?

Das hat mehrere Gründe. Einer sind sicherlich schlechte Erfahrungen in der Transformationszeit der 90er Jahre. Das Gefühl, gedemütigt worden zu sein, das eigene Leben herabgesetzt zu sehen, spielt eine große Rolle. Was wir nicht unterschätzen sollten, sind Wurzeln, die in der Zeit vor 1989 liegen und nichts mit schlechten Erfahrungen mit Besserwessis oder Arbeitslosigkeit zu tun haben. Das ist zunächst einmal die autoritäre Sozialisation in der DDR. Im Grunde ist es eine schizophrene Haltung des Bürgers gegenüber dem Staat. Das ist ein Erbe der DDR, das darin besteht, einerseits zu darauf zu warten, dass der Staat alles macht, dass er für alles verantwortlich ist und ich mich nicht selbst einbringen muss, andererseits aber ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat zu spüren.

Diese antiwestliche, antiparlamentarische, antiliberale und antizionistische Aufladung des DDR-Geschichtsbilds ist tatsächlich anschlussfähig für westdeutsche rechtsextreme Narrative.

Sehen Sie weitere Gründe?

Ich glaube, dass auch die Geschichtspolitik der DDR eine Rolle spielt. Die DDR hat ein Geschichtsbild vertreten, dass der Dimitrow’schen These folgte. Der Faschismus war danach die Herrschaft der aggressivsten Kreise des Monopolkapitals, und die Kapitalisten waren natürlich nach 1945 in den Westen gegangen. Deswegen hieß die erste Dauerausstellung hier in der Gedenkstätte Buchenwald „Die Blutspur führt nach Bonn“. Außerdem gab es einen Leitsatz, den die DDR immer vor sich hergetragen hat, und das ist eine Zeile aus dem Schwur von Buchenwald, denen die befreiten Häftlinge geleistet haben. Dieser Vers lautet „Die endgültige Vernichtung des Faschismus mit all seinen Wurzeln ist unsere Losung“. Mit den Wurzeln war der Kapitalismus gemeint, aber auch der sogenannte Imperialismus westlicher Prägung. Diese antiwestliche, antiparlamentarische, antiliberale und antizionistische Aufladung des DDR-Geschichtsbilds ist tatsächlich anschlussfähig für westdeutsche rechtsextreme Narrative. Deshalb hat der Rechtsextremist Jürgen Elsässer im Osten so viel Erfolg mit seiner „Ami-go-home“-Kampagne.

Wie können Sie mit Ihrer Arbeit AfD-Anhänger erreichen. Die kommen doch vermutlich nicht zu Ihnen in die Gedenkstätte, oder?

Es gibt bei uns Gruppenbesuche und Einzelbesucher. Bei Letzteren ist es so, wie Sie vermutet haben. Das sind überwiegend Menschen, die die Gedenkstätte aus einem intrinsischen Interesse an der Geschichte besuchen. Die wollen die Opfer würdigen – mit Ausnahme ganz weniger, die herkommen, um zu provozieren oder Hakenkreuze in unsere Schilder zu schlitzen. Aber das ist eine Minderheit.

Wie erreichen Sie die anderen?

Wir versuchen als Stiftung in die Gesellschaft hinauszuwirken, vor allen Dingen auch im digitalen Raum, und deswegen haben wir zum Beispiel erst letzte Woche in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Schiller-Universität, an der ich lehre, eine Website freigeschaltet, die „Geschichte statt Mythen“ heißt. Da werden geschichtsrevisionistische Legenden vorgestellt.

Sie engagieren sich im Digitalen, um dort auch junge Leute zu erreichen. Doch bei Jugendwahlen in Thüringen, die parallel zur Europawahl an Schulen gemacht wurden, kam die AfD auf 48 Prozent. Das ist besorgniserregend.

Wohl wahr. In Bautzen in Sachsen, wo es ja auch Landtagswahlen am Sonntag gibt, hat es diese Jugendwahlen auch gegeben, da ist die AfD auf 57 Prozent gekommen. Das ist tatsächlich hochgradig erschreckend.

Welche Gründe sehen Sie für diese Entwicklung?

Diese Schülerinnen und Schüler sind ja nicht mit irgendeinem Nazi-Gen geboren, sondern haben das irgendwo her. Das sind zum Teil die Elternhäuser. Ich will auch nicht ausschließen, dass es einzelne Lehrerinnen und Lehrer gibt, die solche Positionen vertreten. Der Hauptgrund ist aber, dass in dieser Altersgruppe Wissensaneignung und Meinungsbildung hauptsächlich im Internet, in Social Media stattfindet. Man muss einfach neidlos anerkennen, dass die AfD da sehr viel professioneller aufgestellt ist als die demokratischen Parteien und Akteure der historisch-politischen Bildung, gerade auf Tiktok zum Beispiel.

Was können Sie tun? Hat Ihre Stiftung einen Tiktok-Account?

Nein, wir haben noch keinen. Wir planen das und haben eine Projektstelle geschaffen für die Erarbeitung von Videoformaten. Man muss aber sagen, das Prinzip von Tiktok ist Krawall. Wir wollen dem Krawall aber nicht Krawall entgegensetzen. Wir machen wissenschaftlich basierte quellengestützte Arbeit und wollen seriöse Informationen verbreiten, auch wenn wir natürlich wissen, dass seriöse Informationen deutlich weniger sexy sind als irgendein Hassvideo.

Die Grenzen dessen, was Rassisten, Antisemiten und Holocaust-Verharmloser zu sagen wagen, hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter verschoben. Wir erleben Sie das?

Ich nenne das erinnerungskulturellen Klimawandel. Zum Beispiel bin ich fest davon überzeugt, dass Hubert Aiwanger sich letztes Jahr nicht hätte halten können, wenn das Ganze zehn Jahre vorher passiert wäre. Da ist etwas ins Rutschen gekommen. Und daran haben die AfD, aber auch andere Rechtsextreme ganz maßgebliche Verantwortung, weil von dieser Partei mit Verve Hetze verbreitet wird, die an niedere Instinkte appelliert.

Wie steht es ganz generell um die Erinnerungskultur in Deutschland?

Ich sehe seit Jahren Defizite in der Erinnerungskultur. Nicht so sehr in der konkreten Arbeit in den Gedenkstätten, aber in dem, was ich die politische Sphäre der Erinnerungskultur nenne. Das fängt schon mit dem Begriff der Erinnerung an. Das, was wir machen, ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte. Und Geschichte ist nicht gleich Erinnerung. Es heißt immer „Erinnert euch!“, aber wenn man das 16-Jährigen sagt, ist es eine moralische Überforderung, die nur zur Abwehr führen kann. Zudem sind wir häufig mit einer sehr trivialisierten und verkitschten Form von „Erinnerung“ im öffentlichen Raum konfrontiert. Der dritte Punkt ist, dass wir uns viel zu lange im öffentlichen Blick auf den Nationalsozialismus darauf beschränkt haben, um die Opfer zu trauern, ohne danach zu fragen, warum diese Menschen eigentlich zu Opfern wurden. Wir müssen nach den Tätern, den Mittätern und Profiteuren der Verbrechen fragen.

Warum ist das entscheidend?

Man muss verstehen, wie die nationalsozialistische Gesellschaft als eine radikal rassistische und antisemitisch formierte Gesellschaft funktioniert hat. Es gab eine Wechselwirkung zwischen den beiden Säulen, auf denen sie stand, nämlich der Säule der Integrationsangebote an die propagierte „Volksgemeinschaft“ auf der einen Seite und auf der anderen Seite Ausgrenzung, Verfolgung und Mord gegenüber den Minderheiten, die nicht dazugehören sollten. Das muss man in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen stellen. Dann kann man aus der Geschichte abgeleitet Aktualitätsbezüge herstellen und danach fragen, wie es heute zum Beispiel mit Verheißungen der Ungleichheit aussieht. Wir sind auch gut beraten, nicht immer nur auf das Ende des Nationalsozialismus zu blicken, auf die Leichenberge in den befreiten Konzentrationslagern, sondern auf die ersten Jahre des Nationalsozialismus, auf die Gewöhnungs- und Einübungsphase ab 1933 und darüber hinaus auch auf die Vorphase, also den Aufstieg völkischen Denkens.