Wöchentlich im Wechsel mit Hennig Borggräfe, Direktor des NS-DOK, wird Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, künftig in der Kolumne „Brandbriefe – Zwischen Köln und Buchenwald“ über die Arbeit in den Gedenkstätten und die politische und gesellschaftliche Lage in Thüringen und Köln im Kölner Stadtanzeiger schreiben.
Leiter der Gedenkstätte Buchenwald „Ich hoffe auf ein kleines Wunder“
Von Anne Burgmer 31.08.2024
Der Historiker Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, hat in einem Brief an Thüringer vor der AfD gewarnt und sieht erhebliche Defizite in der deutschen Erinnerungskultur.
Herr Wagner, mit welchen Gefühlen schauen Sie auf den Wahlsonntag in Thüringen?
Jens-Christian Wagner: Die liegen zwischen großer Sorge und Hoffnung. Die Umfragen sind nicht sonderlich gut, die AfD liegt bei rund 30 Prozent, das BSW zwischen 15 und 19 Prozent. Im Augenblick ist nicht ersichtlich, wie es eine demokratische Mehrheit im Landtag geben kann. Und es ist zu befürchten, dass die AfD, selbst wenn sie nicht in Regierungsverantwortung gerät, die Sperrminorität im Landtag erhält. Nach Thüringer Verfassung kann eine Partei, die mindestens 33 Prozente der Landtagsmandate hat, Einfluss auf die Tagesordnung des Landtags nehmen und damit auf die Verabschiedung des Haushaltes, auf die Ernennung von Verfassungsrichtern und dergleichen.
Das könnte auch für Ihre Gedenkstätten gravierende Folgen haben.
Ja, das macht mir tatsächlich große Sorgen, weil die AfD eine Partei ist, die notorisch geschichtsrevisionistische Legenden in die Welt setzt, die unsere Arbeit als „Schuldkult“ diskreditiert und die zuletzt zunehmend positive Bezüge zum Nationalsozialismus in die Welt gesetzt hat. Das sind alles Positionen, die gegen die kritische Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und gegen die Würdigung der Opfer der NS-Verbrechen gerichtet sind. Mit Höcke an der Spitze ist die AfD eine eindeutig völkische Partei.
Sie sagten, es gebe auch Hoffnung, was macht Ihnen denn Hoffnung?
Zum Beispiel die Erfahrung, die wir letztes Jahr gemacht haben, als in Nordhausen, wo sich unsere zweite Gedenkstätte Mittelbau-Dora befindet, ein neuer Oberbürgermeister gewählt wurde. Alle sind davon ausgegangen, dass der AfD-Kandidat gewählt wird. In der Zivilgesellschaft herrschte lange Zeit Schockstarre, doch dann ist sie erwacht, ein Bündnis wurde gegründet; wir als Gedenkstätte haben auf holocaustverharmlosende Posts des AfD-Kandidaten hingewiesen. Insbesondere die Älteren wurden mobilisiert. Am Ende hat gegen jede Voraussage der demokratische Kandidat gewonnen. Das war ein kleines Wunder, und auf ein solches kleines Wunder hoffe ich auch am Sonntag.
Sie haben aufgrund dieser Erfahrung vor der Wahl 350.000 Briefe an ältere Thüringerinnen und Thüringer verschickt und vor der AfD gewarnt. Beschimpfungen und Bedrohungen sind für Sie nicht neu. Solche Reaktionen gab es auch bei dieser Aktion. Hat Sie das Ausmaß dennoch überrascht?
Wir sind nicht davon ausgegangen, dass das komplett ohne Reaktion bleiben würde. Und im Grunde wünscht man sich ja auch Reaktionen. Wir sind auch nicht davon ausgegangen, dass die AfD jubeln würde. Das Erfreuliche ist, dass uns deutlich mehr positive Zuschriften erreicht haben als negative, übrigens auch eine ganze Menge Spenden. Das Negative ist, dass es einen Shitstorm gab, nicht nur im Netz, sondern auch per Mail und Brief – mit teils wüsten Beschimpfungen bis hin zu Todeswünschen, teilweise auch mit Klarnamen verfasst. Solche Reaktionen kamen aber nach meinem Eindruck gar nicht so sehr von denjenigen, die tatsächlich die Briefe erhalten haben, sondern von Leuten, die von der Desinformation der AfD und anderer Rechtsextremer animiert wurden, uns zu schreiben.
Wie gehen Sie mit solchen Angriffen und Bedrohungen um?
Eigentlich habe ich es immer geschafft, so etwas von mir wegzuhalten und eine gewisse Distanz dazu zu entwickeln. Ich muss bekennen, dass ich in der letzten Woche morgens mit einem mulmigen Gefühl aufgewacht bin, mit einem Drücken im Bauch. Das ist kein schönes Gefühl. Aber das ist das, was diese Leute wollen. Sie wollen einen einschüchtern, und diesen Gefallen sollten wir ihnen nicht tun.
Warum ist die AfD gerade in den ostdeutschen Bundesländern so stark?
Das hat mehrere Gründe. Einer sind sicherlich schlechte Erfahrungen in der Transformationszeit der 90er Jahre. Das Gefühl, gedemütigt worden zu sein, das eigene Leben herabgesetzt zu sehen, spielt eine große Rolle. Was wir nicht unterschätzen sollten, sind Wurzeln, die in der Zeit vor 1989 liegen und nichts mit schlechten Erfahrungen mit Besserwessis oder Arbeitslosigkeit zu tun haben. Das ist zunächst einmal die autoritäre Sozialisation in der DDR. Im Grunde ist es eine schizophrene Haltung des Bürgers gegenüber dem Staat. Das ist ein Erbe der DDR, das darin besteht, einerseits zu darauf zu warten, dass der Staat alles macht, dass er für alles verantwortlich ist und ich mich nicht selbst einbringen muss, andererseits aber ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat zu spüren.
Diese antiwestliche, antiparlamentarische, antiliberale und antizionistische Aufladung des DDR-Geschichtsbilds ist tatsächlich anschlussfähig für westdeutsche rechtsextreme Narrative.
Sehen Sie weitere Gründe?
Ich glaube, dass auch die Geschichtspolitik der DDR eine Rolle spielt. Die DDR hat ein Geschichtsbild vertreten, dass der Dimitrow’schen These folgte. Der Faschismus war danach die Herrschaft der aggressivsten Kreise des Monopolkapitals, und die Kapitalisten waren natürlich nach 1945 in den Westen gegangen. Deswegen hieß die erste Dauerausstellung hier in der Gedenkstätte Buchenwald „Die Blutspur führt nach Bonn“. Außerdem gab es einen Leitsatz, den die DDR immer vor sich hergetragen hat, und das ist eine Zeile aus dem Schwur von Buchenwald, denen die befreiten Häftlinge geleistet haben. Dieser Vers lautet „Die endgültige Vernichtung des Faschismus mit all seinen Wurzeln ist unsere Losung“. Mit den Wurzeln war der Kapitalismus gemeint, aber auch der sogenannte Imperialismus westlicher Prägung. Diese antiwestliche, antiparlamentarische, antiliberale und antizionistische Aufladung des DDR-Geschichtsbilds ist tatsächlich anschlussfähig für westdeutsche rechtsextreme Narrative. Deshalb hat der Rechtsextremist Jürgen Elsässer im Osten so viel Erfolg mit seiner „Ami-go-home“-Kampagne.
Wie können Sie mit Ihrer Arbeit AfD-Anhänger erreichen. Die kommen doch vermutlich nicht zu Ihnen in die Gedenkstätte, oder?
Es gibt bei uns Gruppenbesuche und Einzelbesucher. Bei Letzteren ist es so, wie Sie vermutet haben. Das sind überwiegend Menschen, die die Gedenkstätte aus einem intrinsischen Interesse an der Geschichte besuchen. Die wollen die Opfer würdigen – mit Ausnahme ganz weniger, die herkommen, um zu provozieren oder Hakenkreuze in unsere Schilder zu schlitzen. Aber das ist eine Minderheit.
Wie erreichen Sie die anderen?
Wir versuchen als Stiftung in die Gesellschaft hinauszuwirken, vor allen Dingen auch im digitalen Raum, und deswegen haben wir zum Beispiel erst letzte Woche in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Schiller-Universität, an der ich lehre, eine Website freigeschaltet, die „Geschichte statt Mythen“ heißt. Da werden geschichtsrevisionistische Legenden vorgestellt.
Sie engagieren sich im Digitalen, um dort auch junge Leute zu erreichen. Doch bei Jugendwahlen in Thüringen, die parallel zur Europawahl an Schulen gemacht wurden, kam die AfD auf 48 Prozent. Das ist besorgniserregend.
Wohl wahr. In Bautzen in Sachsen, wo es ja auch Landtagswahlen am Sonntag gibt, hat es diese Jugendwahlen auch gegeben, da ist die AfD auf 57 Prozent gekommen. Das ist tatsächlich hochgradig erschreckend.
Welche Gründe sehen Sie für diese Entwicklung?
Diese Schülerinnen und Schüler sind ja nicht mit irgendeinem Nazi-Gen geboren, sondern haben das irgendwo her. Das sind zum Teil die Elternhäuser. Ich will auch nicht ausschließen, dass es einzelne Lehrerinnen und Lehrer gibt, die solche Positionen vertreten. Der Hauptgrund ist aber, dass in dieser Altersgruppe Wissensaneignung und Meinungsbildung hauptsächlich im Internet, in Social Media stattfindet. Man muss einfach neidlos anerkennen, dass die AfD da sehr viel professioneller aufgestellt ist als die demokratischen Parteien und Akteure der historisch-politischen Bildung, gerade auf Tiktok zum Beispiel.
Was können Sie tun? Hat Ihre Stiftung einen Tiktok-Account?
Nein, wir haben noch keinen. Wir planen das und haben eine Projektstelle geschaffen für die Erarbeitung von Videoformaten. Man muss aber sagen, das Prinzip von Tiktok ist Krawall. Wir wollen dem Krawall aber nicht Krawall entgegensetzen. Wir machen wissenschaftlich basierte quellengestützte Arbeit und wollen seriöse Informationen verbreiten, auch wenn wir natürlich wissen, dass seriöse Informationen deutlich weniger sexy sind als irgendein Hassvideo.
Die Grenzen dessen, was Rassisten, Antisemiten und Holocaust-Verharmloser zu sagen wagen, hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter verschoben. Wir erleben Sie das?
Ich nenne das erinnerungskulturellen Klimawandel. Zum Beispiel bin ich fest davon überzeugt, dass Hubert Aiwanger sich letztes Jahr nicht hätte halten können, wenn das Ganze zehn Jahre vorher passiert wäre. Da ist etwas ins Rutschen gekommen. Und daran haben die AfD, aber auch andere Rechtsextreme ganz maßgebliche Verantwortung, weil von dieser Partei mit Verve Hetze verbreitet wird, die an niedere Instinkte appelliert.
Wie steht es ganz generell um die Erinnerungskultur in Deutschland?
Ich sehe seit Jahren Defizite in der Erinnerungskultur. Nicht so sehr in der konkreten Arbeit in den Gedenkstätten, aber in dem, was ich die politische Sphäre der Erinnerungskultur nenne. Das fängt schon mit dem Begriff der Erinnerung an. Das, was wir machen, ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte. Und Geschichte ist nicht gleich Erinnerung. Es heißt immer „Erinnert euch!“, aber wenn man das 16-Jährigen sagt, ist es eine moralische Überforderung, die nur zur Abwehr führen kann. Zudem sind wir häufig mit einer sehr trivialisierten und verkitschten Form von „Erinnerung“ im öffentlichen Raum konfrontiert. Der dritte Punkt ist, dass wir uns viel zu lange im öffentlichen Blick auf den Nationalsozialismus darauf beschränkt haben, um die Opfer zu trauern, ohne danach zu fragen, warum diese Menschen eigentlich zu Opfern wurden. Wir müssen nach den Tätern, den Mittätern und Profiteuren der Verbrechen fragen.
Warum ist das entscheidend?
Man muss verstehen, wie die nationalsozialistische Gesellschaft als eine radikal rassistische und antisemitisch formierte Gesellschaft funktioniert hat. Es gab eine Wechselwirkung zwischen den beiden Säulen, auf denen sie stand, nämlich der Säule der Integrationsangebote an die propagierte „Volksgemeinschaft“ auf der einen Seite und auf der anderen Seite Ausgrenzung, Verfolgung und Mord gegenüber den Minderheiten, die nicht dazugehören sollten. Das muss man in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen stellen. Dann kann man aus der Geschichte abgeleitet Aktualitätsbezüge herstellen und danach fragen, wie es heute zum Beispiel mit Verheißungen der Ungleichheit aussieht. Wir sind auch gut beraten, nicht immer nur auf das Ende des Nationalsozialismus zu blicken, auf die Leichenberge in den befreiten Konzentrationslagern, sondern auf die ersten Jahre des Nationalsozialismus, auf die Gewöhnungs- und Einübungsphase ab 1933 und darüber hinaus auch auf die Vorphase, also den Aufstieg völkischen Denkens.